Der Truthahn unter dem Tisch
Uri Avnery - 27. Juli 2013
WENN
ES einen Konflikt zwischen zwei Parteien gibt, ist der Weg zu
einer Lösung klar: Man setzt sie in den selben Raum, lässt sie
ihre Differenzen ausdiskutieren und lässt sie mit einer
vernünftigen Lösung, die von beiden Parteien akzeptiert wird,
wieder herauskommen.
Zum Beispiel, ein Konflikt zwischen einem Wolf
und einem Lamm. Setzen Sie sie beide in den selben Raum, lassen
Sie sie ihre Differenzen austragen und wieder herauskommen mit
...
Einen Moment 'mal, nur der Wolf kommt wieder
heraus. Aber, wo ist das Lamm?
WENN ES einen Konflikt zwischen zwei Parteien
gibt, die wie ein Wolf und ein Lamm sind, dann muss man eine
dritte Partei in den Raum setzen, nur, um sicherzustellen, dass
die 1. Partei die 2. Partei nicht zum Dinner verspeist, während
die Gespräche weitergehen.
Das Machtverhältnis zwischen Israel und der
Palästinensischen Autorität ist wie das zwischen einem Wolf und
einem Lamm. In fast jeder Hinsicht – wirtschaftlich, militärisch
und politisch hat Israel eine gewaltige Übermacht.
Das ist eine harte Tatsache. Es liegt an der
dritten Partei, dies auszugleichen.
Kann sie es tun? Wird sie es tun?
ICH HABE John Kerry schon immer geschätzt. Er
strahlt Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit aus, die er auch
tatsächlich zu besitzen scheint. Seine hartnäckigen Bemühungen
verdienen Anerkennung. Die Ankündigung dieser Woche, dass er
sogar endlich die ersten Schritte für Gespräche zwischen den
Parteien erreicht hat, gibt Anlass zu Optimismus.
Wie Mao sagte: „Ein Marsch über tausend Meilen
beginnt mit einem einzigen Schritt.“
Die Parteien haben einem Delegiertentreffen
zugestimmt, um die vorläufigen Einzelheiten auszuarbeiten. In
der kommenden Woche soll es in Washington stattfinden. So weit,
so gut.
Die erste Frage dabei ist: „Wer wird der Dritte
im Bund sein? Es sickerte durch, dass der Hauptkandidat für
diese delikate Aufgabe Martin Indyk sein soll, ein früherer
Beamter beim Außenministerium.
Diese Wahl ist problematisch. Indyk ist ein Jude
und sehr in jüdische und zionistische Aktivitäten involviert. Er
wurde in England geboren und wuchs in Australien auf. Zweimal
diente er als US-Botschafter in Israel.
Die rechten Israelis lehnen ihn ab, weil er bei
Organisationen der Linken aktiv ist. Er ist Direktoriumsmitglied
des „New Israeli Fund“, der moderate israelische
Friedensorganisationen subventioniert und deshalb von den
Extrem-Rechten aus dem Umfeld von Binyamin Netanyahu dämonisiert
wird.
Die Palästinenser mögen sich wohl fragen, ob es
unter den 300 Millionen US-Bürgern keinen einzigen Nicht-Juden
gibt, der diese Aufgabe übernehmen könnte. Seit vielen Jahren
waren fast alle amerikanischen Offiziellen, die sich mit der
israelisch-arabischen Problematik befasst haben, Juden. Und fast
alle von ihnen blieben später als Funktionäre bei zionistischen
Ideenfabriken und anderen Organisationen.
Wenn man die USA aufgefordert hätte, als
Vermittler bei Verhandlungen, sagen wir 'mal, zwischen Ägypten
und Äthiopien, zu fungieren, hätte sie dann einen äthiopischen
Amerikaner dafür ausgewählt?
ICH BIN Indyk mehrmals begegnet, hauptsächlich
bei diplomatischen Empfängen (außer bei Empfängen der
US-Botschaft, da war ich nie eingeladen.) Einmal sandte ich ihm
ein Schreiben, das mit seinem Namen verknüpft war.
Die Geschichte von dem „Indyk“ kennt jeder, der
sich in jüdischer Volkskunde auskennt. Sie wurde von einem
einflussreichen jüdischen Rabbi, Rabbi Nachman aus Braslaw (1772
– 1811), erzählt, der auch noch heute in Israel viele Anhänger
hat.
Es war einmal ein Prinz, der an der
Wahnvorstellung litt, dass er ein „Indyk“ sei (was in Jiddisch
„Truthahn“ heißt – aus dem Hebräischen „indische Henne“). Er saß
nackt unter dem Tisch und aß lediglich Brotkrümel, die man ihm
zuwarf.
Nachdem kein Arzt ihn heilen konnte, übernahm ein
weiser Rabbi diese Aufgabe. Er streifte seine Kleider ab, setzte
sich nackt unter den Tisch und begann, sich auch wie ein
Truthahn zu verhalten. Schritt für Schritt überzeugte er den
Prinzen, dass ein „Indyk“ Kleidung tragen -, regelmäßige Nahrung
zu sich nehmen - und letztendlich sogar am Tisch, anstatt unter
ihm, sitzen kann. Auf diese Weise wurde der Prinz geheilt.
Wenn Indyk tatsächlich gewählt wird, mögen einige
sagen, diese Geschichte habe einen direkten Einfluss auf seine
zukünftige Aufgabe. Zwei nackte „Indyks“ sitzen nun unter dem
Tisch und seine Aufgabe wird es sein, sie dazu zu bringen, am
Tisch zu sitzen und ernsthaft über Frieden zu sprechen.
Es stimmt, dass die Palästinenser daran gewöhnt
sind, Brotkrumen zugeworfen zu bekommen, aber nun könnten sie
richtige politische Nahrung verlangen.
DIE CHANCEN jedweder Friedensverhandlungen kann
man anhand der Atmosphäre, die auf beiden Seiten herrscht,
anhand der Terminologie, die angewandt wird und anhand der
internen Diskussionen, die geführt werden, einschätzen.
Sie sind nicht sehr begeisternd.
In Israel verwendet niemand das Wort „Frieden“.
Sogar Tzipi Livni, die auf unserer Seite mit den Verhandlungen
beauftragt werden wird, spricht lediglich von einem
„Endstatusabkommen“, dass zwar „dem Konflikt“ - aber
keinesfalls der Besatzung - ein Ende bereiten würde.
Die meisten Israelis ignorieren das Ereignis
völlig, weil sie glauben, dass das Ziel von Netanyahu und
Mahmoud Abbas einzig und allein der Abbruch der Verhandlungen
ist, und zwar derart, dass jeder von ihnen versucht, die Schuld
dafür dem anderen in die Schuhe zu schieben. Auch die meisten
Palästinenser sind dieser Meinung. Frieden liegt definitiv nicht
in der Luft.
Dennoch beweist eine in dieser Woche
durchgeführte Umfrage, dass die große Mehrheit der Israelis – 55
gegenüber 25 (oder in Prozent ausgedrückt, 69% gegenüber 31%) –
im Falle eines Referendums für ein vom Premierminister erzieltes
Friedensabkommen stimmen würde.
Die Rechten befürworten den Gedanken, ein
Referendum bezüglich eines Friedensabkommens durchzuführen, die
Linken jedoch opponieren. Ich bin dafür. Ohne eine solide
Mehrheit wäre der Abbau von Siedlungen ohnehin für jede
Regierung so gut wie unmöglich. Und ich bin davon überzeugt,
dass jedes konkrete Abkommen, das von einer glaubwürdigen
palästinensischen Führung akzeptiert und von den USA empfohlen
wird, im Falle eines Referendums ein überwältigendes „Ja“
erzielen würde.
DIE MEISTEN Experten meinen, Israel solle keine
Endphase der Verhandlungen anstreben, sondern lediglich ein
bescheidenes „Zwischenabkommen“. Sie zitieren das alte jüdische
Sprichwort: „Derjenige, der zu viel erreichen will, erreicht gar
nichts.“
Ich stimme dem nicht zu.
Vor allem gibt es ein Sprichwort, das besagt,
dass man keinen Abgrund mit zwei Sprüngen überqueren kann. Man
kann in der Mitte nicht anhalten.
Dieses Sprichwort führten wir bei Yitzak Rabin nach Oslo an.
Der fatale Fehler des Oslo-Abkommens war, dass es
alles in allem nur ein Zwischenabkommen war. Für die
Palästinenser stand fest, dass dessen Ziel war, in allen
besetzten Gebieten, einschließlich Ostjerusalem, den Staat
Palästina zu errichten. Für die israelische Seite ging dies
überhaupt nicht klar daraus hervor. Da es kein Abkommen darüber
gab, wurde jede Übergangsmaßnahme zu einem Streitobjekt. Wenn
Sie mit dem Zug von Paris nach Berlin fahren wollen, sind die
Zwischenstationen völlig anders, als die, die Sie auf dem Weg
von Paris nach Madrid passieren.
Während der endlosen Streitigkeiten um einen
„sicheren Übergang“ zwischen der Westbank und dem Gazastreifen,
um den „dritten Rückzug“ und dergleichen, gab Oslo seine arme
Seele auf.
Der einzige Weg, einen Fortschritt zu erzielen,
ist vor allem, eine Einigung bei den „Kernfragen“ zu erreichen.
Deren Lösung könnte sich über einige Zeit hinziehen – allerdings
würde ich auch das nicht empfehlen.
Der israelisch-palästinensische Frieden ist ein
riesiger Schritt in der Geschichte beider Völker. Wenn wir den
Mut dazu haben, lasst ihn uns um Himmels Willen tun, ohne uns
auf den Boden zu werfen und zu weinen.
IM AUGENBLICK ist das große Rätsel: „Was hat
Kerry jeder Seite heimlich versprochen?“
Seine Methode erscheint vernünftig. Da beide
Seiten sich in keinem Punkt einigen konnten und jeder von dem
anderen verlangte, die Verhandlungen „ohne Vorbedingungen“
einzugehen, selbst jedoch Vorbedingungen stellte, hat Kerry
einen anderen Weg gewählt.
Er basiert auf einer einfachen Logik: Bei dem
amerikanisch-israelisch-palästinensischen Dreieck müssen fast
sämtliche Entscheidungen zwei zu eins getroffen werden.
Praktisch braucht jede Seite die amerikanische Unterstützung,
damit ihre Forderungen akzeptiert werden. Anstatt das Unmögliche
zu versuchen, ein israelisch-palästinensisches Abkommen auf der
Basis von Verhandlungen zu erreichen, gab Amerika jeder Seite
das Versprechen, sie in bestimmten Punkten zu unterstützen.
Zum Beispiel, es ist nur eine Vermutung, ein
Versprechen, dass die USA die Palästinenser bezüglich des
Grenzverlaufs unterstützt, der auf der Grünen Linie mit einem
akzeptablen Gebietstausch basieren wird, sowie außerdem auch
bezüglich des Einfrierens von Siedlungen für die Dauer der
Verhandlungen. Auf der anderen Seite wird die USA Israel im
Hinblick auf die Definition, „jüdischer“ Staat, und im Hinblick
auf die (Nicht)-Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge
unterstützen.
In der Vergangenheit hat die USA ohne Scham
derartige Versprechen gebrochen. Zum Beispiel hat Bill Clinton
Yasser Arafat vor dem Treffen in Camp David fest versprochen, im
Falle eines Scheiterns keiner Seite die Schuld zu geben. (Da das
Treffen ohne die kleinste Vorbereitung zustande gekommen war,
war ein Scheitern vorhersehbar.) Nach der Konferenz machte
Clinton zu Unrecht Arafat voll und ganz für das Scheitern des
Treffens verantwortlich, ein widerwärtiger Akt politischer
Berechnung, der nur dazu diente, seiner Frau in New York zur
Wahl zu verhelfen.
TROTZ SOLCHER negativen Erfahrungen setzt Abbas
sein Vertrauen in Kerry. Es scheint so, als ob dieser die Gabe
besäße, Vertrauen zu erwecken. Hoffen wir, dass er es nicht
verspielt.
So, mit oder ohne einen Truthahn, um den Wolf vom
Verschlingen eines Lamms abzuhalten und trotz aller
Enttäuschungen der Vergangenheit, lassen Sie uns hoffen, dass
die Verhandlungen dieses Mal wirklich in Gang kommen und zum
Frieden führen. Die Alternative ist zu düster, um darüber
nachzudenken.
(ins
Deutsche übersetzt v. Inga Gelsdorf, i.A. v. Ellen Rohlfs/Uri
Avnery)