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Daphne und Itzik
Uri Avnery, 10.September 2011
ES KLINGT wie der Titel eines romantischen Films.
„Daphne, Itzig und all die anderen.“
Er beginnt mit einer Freundschaft zwischen zwei
jungen Menschen, er ist Anfang dreißig, sie Mitte zwanzig. Dann
streiten sie sich. Er geht. Sie bleibt.
Die Zuschauer wissen genau, was sie wünschen: sie
wollen, dass die beiden sich wieder versöhnen, sich küssen, heiraten
und Arm in Arm in den Sonnenaufgang gehen, begleitet von einer
sanften Melodie.
Was die Schauspieler angeht, so sind sie perfekt.
Die beiden spielen sich selbst. Hollywoods Zentrale Rollenverteilung
könnte es nicht besser gemacht haben.
Sie ist eine attraktive junge Frau, trägt einen
Männerhut, damit man sie leicht erkennt. Er ist der israelische
junge Mann, ziemlich hübsch, an seiner Nase leicht zu erkennen.
DIE GESCHICHTE beginnt mit Daphne Leef, Cutterin
von Kurzfilmen, Tochter eines Komponisten, und nicht in der Lage, in
Tel Aviv eine Wohnung zu mieten. Jetzt reicht es ihr. Sie verkündet
über Facebook, dass sie ab jetzt in einem Zelt auf dem
Rothschild-Boulevard leben werde und fragt, ob sich ihr noch andere
anschließen wollen.
Einige tun dies. Dann kommen mehr. Dann noch
mehr. Im Nu sind es mehr als hundert Zelte in der Allee, einer der
ältesten der Stadt, eine ruhige Wohngegend. Andere Zeltstädte
entstehen im ganzen Land. Eine riesige Massenbewegung ist
entstanden. Am letzten Samstag demonstrierten 350 000 Menschen in
Tel Aviv, 450 000 im ganzen Land. Das wäre so, als würden in den USA
18 Millionen und in Deutschland drei Millionen auf die Straße gehen.
Einige Zeit nachdem die ganze Sache angefangen
hatte, schloss sich die „Israelische Gesellschaft von
Universitätsstudenten“, von seinem Vorsitzenden Itzig Shmuli
angeführt, der Protestbewegung an. Daphne und Itzig wurden mit
einigen anderen als ihre Führer angesehen. Auffallend unter ihnen
war Stav Shaffir, leicht zu erkennen an ihrem leuchtend roten Haar (Stav
bedeutet Herbst).
Die Medien liebten sie. Sie nahmen sie mit einer
vorher nie gesehenen Inbrunst an. In einer Weise, die bemerkenswert
war, da alle Medien im Besitz der selben Magnaten waren, die die
Demonstranten beschimpften. Die Erklärung könnte die sein, dass der
durchschnittliche arbeitende Journalist derselben sozialen Gruppe
angehört wie Daphne und die anderen Demonstranten – junge
Mittelklassemänner und –Frauen, die hart arbeiten und nicht genug
erhalten, damit das Geld bis zum Ende des Monats reicht.
Aber auch die Medien benötigen die
Einschaltquote: die Öffentlichkeit möchte die Protestdemos sehen und
hören. Keiner kann es sich leisten, sie zu ignorieren, auch nicht
ein Magnat, dem es um den Profit geht.
VOR DREI Wochen begannen die ersten Anzeichen für
eine Entzweiung. Nachdem Benjamin Netanjahu die Proteste zunächst
mit Verachtung behandelt hatte, sah er die Gefahr und tat, was er
(und Politiker wie er) immer tun: er ernannte eine Kommission, die
„Reformen“ vorschlagen sollte. Weder versprach er, die Empfehlungen
zu erfüllen noch erlaubte er der Kommission, die Grenzen des
Zwei-Jahres-Staatsbudgets, das schon von der Knesset abgesegnet war,
zu durchbrechen.
Für einige war das nur ein Manöver, um Zeit zu
gewinnen und die Protestbewegung ihren Schwung verlieren zu lassen.
Andere wiesen auf die Tatsache hin, dass die Kommission von einem
unabhängigen 61 jährigen Professor mit einem guten Renommée geführt
wird, von Manuel Trajtenberg, von dem erwartet werden kann, dass er
innerhalb der ihm gesetzten Grenzen sein Bestes tun wird.
Netanjahu selbst – etwa zwischen einem frommen
Reaganiten und einem ergebenen Thatcheriten (Vertreter ungezügelten
Kapitalismus’) versprach, all seine wirtschaftlichen Ansichten zu
verändern.
So begann der Streit. Daphne, Stav und die
meisten anderen weigerten sich, mit der Kommission zusammen zu
arbeiten. Itzig nahm sie an und traf sich mit ihren Mitgliedern.
Daphne war nicht mit der begrenzten Reform zufrieden, die
wahrscheinlich von der Kommission zu erwarten war; Itzig war bereit,
zu akzeptieren, was zu erreichen war.
Tatsächlich war die Kontroverse vermeidbar.
Daphne und ihre Kollegen konnten das tun, was Zionisten immer mit
viel Erfolg getan haben: in jedem Stadium das nehmen, was man
bekommen kann. Und dann weitergehen, um mehr zu bekommen.
Aber der Streit war mehr als eine
Meinungsverschiedenheit über Taktiken. Er reflektiert eine
grundsätzliche Differenz des Weltbildes, der Strategie und des
Stils.
Die Tatsache, dass die Massen sich dem Protest
trotz dieser Enthüllungen anschlossen, zeigt, dass die alte
militaristische Sprache ihren Glanz verloren hat. Daphne und ihre
Anhänger wollen einen anderen Diskurs.
Einige glauben, dass es grundsätzlich ein Streit
zwischen den Geschlechtern sei: männlich gegen weiblich. Daphnes
Stil ist sanft und inklusiv, positiv, sie versucht, alle Teile der
Gesellschaft zu erreichen. Itziks Stil ist exklusiver. Daphne und
Stav sagen nie „ich“, sondern immer „wir“. Itzik benützt frei das
„Ich“. Er ließ einige die Stirne runzeln , als er bei einer
Demonstration sagte: „Ihr seid im Kampf alle MEINE Partner …“
Die Protestbewegung wird stark von Frauen
beeinflusst. Frauen gründeten sie, Frauen sind die Hauptsprecher.
Ändert dies ihre Struktur?
(Ich hatte darüber ein Streitgespräch mit einer
feministischen Freundin. Sie bestand darauf, dass es keinen
grundsätzlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern gebe, dass
der bestehende Unterschied von der Kultur geschaffen werde. Jungen
und Mädchen werden von Anfang an auf verschiedene Rollen hin
erzogen. Ich glaube, dass es da einen grundsätzlich
biologischen Unterschied gibt, der auf die
Primaten und noch früher zurückgeht. Von Natur aus haben Frauen die
Kinder zu gebären und aufzuziehen, während der Mann sie verteidigen
muss und für Nahrung zu jagen hat. Aber am Ende kommt es aufs selbe
hinaus: der moderne Mensch hat die Fähigkeit, sich zu entwickeln;
wir können also unsere Kultur nach unserm Willen bestimmen.)
DAPHNE SCHEINT kein Ego zu haben, keine
politischen Ambitionen. Fast jeder glaubt, dass Itzik andrerseits
seine Augen auf einen Knessetsitz geworfen hat – indem er sein neu
gegründetes öffentliches Format benützt, um sich der Labor- (oder
einer anderen) Partei anzuschließen, falls er nicht die Führung der
Protestbewegung gewinnen und diese in eine Partei nach seiner
Vorstellung verwandeln kann.
Das wirkt unwahrscheinlich. Bei der großen
Demonstration kam seine Rede gut an. Aber es war Daphne, die
wirklich die Herzen der Massen erreichte. Itzik sprach den Verstand
an. Daphne sprach das Herz an.
Etwas sehr Seltsames – oder vielleicht auch nicht
Seltsames- geschah bei dieser Gelegenheit mit den Medien. Alle drei
großen Fernsehstationen brachten die Ereignisse live und
ausführlich. Itzigs Rede wurde vollständig von allen drei Stationen
gebracht. Aber in der Mitte von Daphnes Rede wurde – wie auf einen
Befehl von oben – ihre Stimme abgeschnitten und stattdessen wurden
„Kommentare von derselben müden alten Bande von Regierungs-sprechern,
„Analytikern“ und „Experten“ gebracht.
Von dem Augenblick an stellten fast alle Medien
Itzik übertrieben positiv dar und spielten Daphne herunter. Die
Magnaten haben anscheinend wieder die Leitung übernommen.
VON ANFANG an bestanden die Führer der
Protestbewegung darauf, dass diese nicht „politisch“, weder „links“
noch „rechts“, sei. Sie sei nur an sozialer Gerechtigkeit,
Solidarität und an einem Wohlfahrtsstaat interessiert, nicht an
Angelegenheiten des Staates, wie Frieden, Besatzung und Ähnlichem.
Wie lange kann diese Einstellung aufrecht
erhalten werden?
In der letzten Woche hielt General Eyal
Eisenberg, Kommandeur der Heimatfront (eine von vier geographischen
Befehlsbereichen der Armee), eine Rede, in der er einen „allgemeinen
Krieg, einen totalen Krieg“ zwischen Israel und einer
„islamisierten“ arabischen Welt voraussagte. In diesem Krieg würden
auch Massenzerstörungswaffen angewandt werden.
Militärische und politische Führer spielten diese
Rede sofort herunter und sagten, dass solch eine Gefahr in nächster
Zukunft nicht bestehe. Aber die Auswirkungen waren klar: die
Notwendigkeit großer Summen, um ganz Israel mit einer „Eisernen
Kuppel“, einer Anti-Raketen Batterie, auszurüsten; riesige Summen
auszugeben, um U-Boote für unsere Nuklearwaffen zu kaufen (die nur
zum Teil von den Deutschen gezahlt wurden) und sogar noch riesigere
Summen um die letzten amerikanischen Tarnkappenbomber zu kaufen.
Milliarden und Milliarden von Dollars zu dem schon bestehenden
riesigen Militärbudget.
Israel wird immer mehr isoliert. Kurz vor seinem
Rücktritt warnte der US-Verteidigungsminister Robert Gate, dass
Netanjahu dabei sei, „Israel zu gefährden“. Der palästinensische
Antrag bei der UN um Anerkennung des Staates Palästina mag zu einer
ernsten Krise führen; der Konflikt mit der Türkei wird von Tag zu
Tag gefährlicher; in Ägypten und anderen aufwachenden arabischen
Ländern, erreichen anti-israelische Gefühle neue Höhen.
Kann man wirklich vorgeben, dass all dies sich
nicht auf die Chancen auswirkt, einen Wohlfahrtsstaat zu schaffen?
Dass der Schwung der Protestbewegung aufrecht erhalten werden kann
und zunimmt unter diesen dunklen Wolken?
DAS NÄCHSTE Stadium wird mit den Empfehlungen der
Trajtenberg-Kommission in ein paar Wochen kommen.
Werden sie es Itzig möglich machen, zu feiern und
die ganze Sache rückgängig machen? Werden sie Daphnes Voraussage
bestätigen, dass ihnen nur die Krümel bleiben, die von dem Tische
fallen, um den die Politiker und Magnaten ihr Festmahl halten?
Werden sie diese historische Bewegung auslöschen oder ihr neues
Leben einhauchen?
Wie wird dieser Film weitergehen? Ach, da werden
wir warten müssen. Wir werden das Ende nicht enthüllen oder?
Angenommen, dass wir’s wüssten.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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