Der israelische
Friedensaktivist, der die feindlichen Linien überschritt und
Generationen prägte
Adam Keller - 22. August 2018
Adam Keller arbeitete 50 Jahre lang Seite an
Seite mit Uri Avnery. Er erinnert sich daran, dass Avnery gehofft
hat, ein israelischer und ein palästinensischer Präsident werden
sich einmal herzlich umarmen.
Uri Avnery (Yossi Gurvitz)
Wie soll ich in wenigen Worten 50 Jahre
politischer Partnerschaft zusammenfassen, die zugleich eine innige
Freundschaft mit dem Menschen war, der den stärksten Einfluss auf
mich ausübte?
Alles begann im Sommer 1969. Als Vierzehnjähriger
aus Tel Aviv sah ich in dem Sommer, der zwischen meiner
Grundschulzeit und meiner Zeit in der weiterführenden Schule lag,
eine Anzeige in der Zeitung HaOlam HaZeh („diese Zeit“): Für
das Wahlbüro der Partei HaOlam HaZeh – Koah Chadasch („Neue
Kraft“) wurden ehrenamtliche Helfer gesucht. Ich ging hin. In einem
kleinen Büro im Untergeschoss in der Glickson-Straße traf ich drei
Jugendliche an, die Werbebroschüren in Umschläge steckten. Bis heute
trägt mich der Geruch von frisch Gedrucktem in diese Zeit zurück.
Zwei Stunden später hörten wir draußen ein Geräusch. Der
Knesset-Abgeordnete Uri Avnery, der Mann, dessen Artikel uns
ursprünglich in dieses Büro gelockt hatten, kam herein. Er kam von
einer Wahlveranstaltung in Rischon LeZion zurück. Er wechselte ein
paar Worte mit uns Ehrenamtlichen, dankte uns für unsere Hilfe und
ging mit seinen Helfern in einen Versammlungsraum.
Damals bewog mich nicht Uri Avnerys Meinung über
das Thema Palästina dazu, für den Wahlkampf zu arbeiten. Meine eigne
Meinung über das Thema war noch nicht vollkommen ausgereift. Erst
zwei Jahre zuvor, im Juni 1967, hatte ich mit vielen anderen daran
teilgenommen, die Tatsache zu feiern, dass Israel sich in „neue
Gebiete“ ausgedehnt hatte. Damals dachte ich nicht im Traum daran,
dass ich schließlich den größten Teil meines Lebens damit verbringen
würde, dafür einzutreten, dass sich Israel aus diesen Gebieten
zurückziehen solle. Uri Avnerys Partei zog mich hauptsächlich
deshalb an, weil sie eine junge, frische politische Partei war, die
die alten, verfaulten Establishment-Parteien infrage stellte, und
weil sie sich gegen religiösen Zwang wandte und sich für die
Trennung von Religion und Staat einsetzte, öffentlichen Verkehr am
Schabbat und die Zivilehe.
Ein paar Wochen, nachdem ich mit der Arbeit
begonnen hatte, legte ich einen Zettel mit ein paar Fragen auf Uris
Schreibtisch: Können wir wirklich mit den Arabern Frieden schließen?
Sollten wir alle Gebiete, die Israel besetzt hatte, zurückgeben oder
nur einige? Und was wird mit den Siedlern? (Die Anzahl der Siedler
war damals nur ein Bruchteil von der heutigen.) Eine Woche danach
hatte ich einen Brief in der Post: drei Seiten detaillierte
Antworten auf meine zehn Fragen. Den Brief habe ich noch. Ich
zweifele nicht daran, dass Uri ihn selbst geschrieben hat. Sein
Schreibstil ist unverkennbar. Mitten in der laufenden politischen
Kampagne hatte er sich Zeit und Kraft genommen, eingehend auf die
Fragen eines Vierzehnjährigen zu antworten!
Das Ende: Freitag, der 3. August 2018. Ich bin
jetzt 63 Jahre alt. Als jahrelanger politischer Partner bekomme ich
Uri Avnerys wöchentlichen Artikel jeden Freitag. Im Artikel dieser
Woche schreibt er über das jüdische Nationalitätsgesetz und Israels
nationale Identität: ist sie jüdisch oder israelisch? Er tritt
entschieden dafür ein, sie sei israelisch. Wie schon oft zuvor
schrieb ich ihm eine eMail, in der ich den Inhalt des Artikels
kommentierte und einige grundsätzliche Einwände erhob. Er schlug mir
vor, dass wir das nächste Mal, wenn wir uns träfen, darüber
diskutieren sollten. Ich fragte nach seiner Meinung über den Protest
gegen das Nationalitätsgesetz, das die Drusen-Gemeinschaft für den
folgenden Tag organisiert hatte. Er sagte, er sei überzeugt, die
Demonstration werde sich nicht auf die Ausnahmestellung der Drusen
in der israelischen Gesellschaft oder auf die einzigartigen Rechte
konzentrieren, die ihnen zugestanden werden, weil sie Militärdienst
leisten, sondern bei der Demonstration werde es um das Grundprinzip
der Gleichstellung aller Bürger gehen.
Zehntausende Demonstranten schlossen sich der
Gemeinschaft der Drusen an und wiesen am
5. August 2018 mit ihrer Demonstration auf dem Rabin-Platz in Tel
Aviv das jüdische Nationalitätsgesetz zurück. (Oren Ziv/Activestills.org)
Der letzte Satz, den er zu mir sagte, war: „Ich
gehe morgen zu dem Protest der Drusen.“ Ich dachte, dass er noch
keine Gelegenheit gefunden hätte, das, was ich ihm geschrieben
hatte, zu lesen, und dass er am Morgen mit der Absicht aufgewacht
sei, an dem Protest teilzunehmen. Am Abend dachte ich, er würde
irgendwo in der großen Menschenmenge stehen, die sich auf dem
Rabin-Platz versammelt hatte. Ich versuchte zweimal, ihn anzurufen,
aber niemand nahm ab. Ich schob es auf eine schlechte
Telefonverbindung. Inzwischen weiß ich, dass er schon in die
Notaufnahme im Ichilow-Krankenhaus gebracht worden war. Er erlangte
das Bewusstsein nicht wieder. Die Aktivisten, die ihn im Auto mit
zur Demonstration hatten nehmen wollen, fanden ihn in seiner Wohnung
auf dem Fußboden liegen.
Was geschah in den 50 Jahren zwischen dem Anfang
und dem Ende? Die Partei HaOlam Hazeh – Koah Chadasch ging im
Linken Lager Israels auf, der politischen Partei, die hebräisch
Scheli hieß. Der Rat für israelisch-palästinensischen Frieden,
der Treffen mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation
arrangierte, wurde zu einer Fraktion von Scheli. Nachdem sich
Scheli aufgelöst hatte, traten wir der Progressiven Liste für
Frieden bei, und dann gründeten wir Gusch Schalom. So viele
Treffen, Märsche, Proteste und Gespräche, so viele Erinnerungen!
Bei einer Demonstration, mit der wir die
Schließung der Raymonda-Tawil-Nachrichtenagentur in Ostjerusalem
verhindern wollen, stehen wir nebeneinander und halten Plakate hoch.
Das Foto von dieser Demonstration hat Avnerys Frau Rachel
aufgenommen. Noch heute hängt es an einer der Wände des Zimmers, in
dem ich diese Worte schreibe. Avnery hatte die Zeitung HaOlam
Hazeh 40 Jahre lang herausgegeben. Am Tag, als sie offiziell
eingestellt wurde, sagte er zu mir: „Ich weiß, das ist ein schwerer
Tag für dich, aber die Zeitung war nur ein Werkzeug, das einem Zweck
diente. Wir werden andere Werkzeuge finden.“
Uri Avnery interviewt den PLO-Vorsitzender Jasser
Arafat in Westbeirut. (Foto: Anat Saragusti, mit freundlicher
Genehmigung von Uri Avnery)
Anfang 1983. Uri Avnery, Matti Peled und Jaakow
Arnon, die die „drei Musketiere“ genannt wurden, kommen von einem
Besuch bei Jasser Arafat aus Tunesien zurück. Gleich als Uri Avnery
auf dem Flughafen gelandet ist, gibt er mir Fotos von dem Treffen
und ich eile in Tel Aviv von einer Nachrichtenabteilung zur anderen,
um sie dort persönlich abzugeben. Dann nehme ich ein Scherut
(Sammeltaxi) nach Jerusalem, wo mich der Herausgeber der
palästinensischen Al-Fjr-Zeitung („Morgendämmerung“) Ziad
Abuzayyad erwartet.
Im Radio wird die Ermordung von Issam Sartawi
gemeldet. Er war ein PLO-Mann, hatte sich oft mit Avnery getroffen
hatte und war ein Freund gewesen. Ich rief Uri an, um ihm die
traurige Nachricht mitzuteilen. In den frustrierenden nächsten
Tagen, in denen wir ohne Ende Telefongespräche führten, erwies es
sich als unmöglich, in Tel Aviv einen Saal zu mieten, in dem wir
eine Gedenkfeier für einen PLO-Mann hätten abhalten können; nicht
einmal für einen, der Frieden mit Israel befürwortet hatte und der
deswegen [von der eigenen Seite] getötet worden war.
Dezember 1992. Bevor Ministerpräsident Rabin die
Oslo-Vereinbarung unterschrieben hat und zum Friedenshelden geworden
ist, vertreibt er mehr als vierhundert palästinensische Aktivisten
in den Libanon. Wir protestieren dagegen, indem wir Zelte vor dem
Büro des Ministerpräsidenten aufbauen. Es ist ein kalter Jerusalemer
Winter und es schneit, aber in den Zelten, die uns Beduinen aus dem
Negev ausgeliehen haben, ist es warm und gemütlich. Uri, Rachel und
meine Frau Beate nehmen gemeinsam mit anderen Aktivisten an einem
langen Gespräch mit Sheikh Raed Salah teil. Sie sprechen über
Judentum und Islam und darüber, wie Religion und Politik sich
einerseits berühren und und wie sie andererseits zusammenstoßen.
1997, mitten im Protest vor Netanjahus
Vorzeige-Siedlung Har Choma, bricht die Narbe von Uris
Kriegs-Verletzung am Bauch auf, die er seit dem Krieg von 1948 am
Körper trägt. Ein palästinensischer Rettungswagen bringt ihn ins
Al-Makassed-Krankenhaus in Ostjerusalem. Wir fürchten das
Schlimmste. Rachel sagt: „Obwohl ich nicht an Gott glaube, bete
ich.“ Aber Uri erholt sich und lebt weitere 21 Jahre voller
intensiver politischer Aktivität.
Mai 2003 in der Muqata’a, dem Gebiet des
Präsidenten in Ramallah. An diesem Nachmittag gab es einen
Terroranschlag in Rischon LeZion und Ministerpräsident Ariel Scharon
deutet an, er könnte eine Eliteeinheit des Militärs schicken, um an
diesem Abend mit Jasser Arafat „fertigzuwerden“. Wir gehören zu den
15 israelischen Aktivisten, die nach Ramallah fahren, um als
menschliche Schutzschilde zu dienen. Wir rufen die Medien an und
sagen: „Zur Information des Ministerpräsidenten: Vor Arafats Tür
sitzen israelische Staatsbürger!“
Der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin,
U.S.-Präsident Bill Clinton und PLO-Vorsitzender Jasser Arafat bei
der Unterzeichnung der Oslo-Vereinbarung (Foto: Vince Musi / The
White House)
Arafat zeigt Uri seine Waffe und sagt: „Wenn sie
kommen, habe ich eine Kugel für mich bereit.“ Wir verbringen die
ganze Nacht vor Arafats Tür und sprechen eine Mischung aus Arabisch,
Hebräisch und Englisch mit den jungen palästinensischen Wachleuten.
Wir achten auf jedes Geräusch. Der Morgen dämmert und wir wissen,
dass wir die Nacht sicher überstanden haben und dass die Soldaten
nicht mehr kommen werden.
Wir führen ein langes entspanntes Gespräch auf
unserem Rückweg von der Versammlung der Progressiven Liste in
Nazareth: „Vor uns waren die Kreuzritter hier. Sie kamen aus Europa
und errichteten hier ein Land, das 200 Jahre Bestand hatte. Nicht
alle waren religiöse Fanatiker. Unter ihnen waren Menschen, die
arabisch sprachen und muslimische Freunde hatten. Aber es gelang
ihnen nicht, jemals mit ihren Nachbarn Frieden zu schließen oder
sich an diese Umgebung anzupassen. Es gab befristete Vereinbarungen
und Waffenstillstände, aber Frieden konnten die Kreuzfahrer nicht
schließen. Akko war ihr Tel Aviv, und als es fiel, wurden die
letzten überlebenden Kreuzfahrer buchstäblich ins Meer geworfen.
Diejenigen, die nicht aus der Geschichte lernen, werden sie
wiederholen müssen.“
Uri sagte: „Wenn ich jemals einen Ministerposten
bekäme, wäre ich gerne Bildungsminister. Das ist eine der
wichtigsten Rollen in der Regierung. Der Verteidigungsminister kann
Soldaten zum Sterben in den Krieg schicken, aber der
Bildungsminister kann das Bewusstsein der Kinder formen. Die
Ergebnisse eines heutigen Bildungsministers werden sich in 50 Jahren
zeigen, wenn die Kinder von heute Großeltern werden. Wenn ich der
Minister wäre, dann würde ich zuerst einmal das Buch Josua aus dem
Lehrplan streichen. Dieses Buch lehrt schlicht und einfach
Völkermord. Historisch ist es eine Fiktion – die beschriebenen
Ereignisse haben niemals stattgefunden. Rachel war 40 Jahre lang
Lehrerin und es gelang ihr jedes Jahr, diesen Schund zu vermeiden.“
Rachel begleitete ihn überallhin. Sie nahm an
allem, was er tat, aktiv teil. Sie sah seine Artikel durch und
beschäftigte sich mit der Logistik der organisierten Proteste. Wir
wussten alle, dass sie Hepatitis B in sich trug; das war eine
Zeitbombe, die jeden Augenblick hätte platzen können. Als es
schließlich so weit war, verbrachte Uri sechs Monate Tag und Nacht
bei ihr im Krankenhaus. Er war aus dem politischen Leben so gut wie
verschwunden. Eines Tages begegnete ich ihm zufällig im Flur des
Ichilow-Krankenhauses. Er schob Rachels Rollstuhl von einer
Untersuchung zur nächsten.
In ihren letzten Wochen erzählte jemand Uri von
einer experimentellen Behandlung, die Rachels Leben retten könnte.
Obwohl Uri wusste, dass die Heilungschancen gering waren, gab er
große Summen aus, um das Heilmittel zu kaufen und zum Flughafen Ben
Gurion und von dort direkt zum Krankenhaus bringen zu lassen. Als
sie gestorben war, wollte Uri drei Tage lang niemanden sehen. Er
zog sich vollkommen aus der Welt zurück. Als diese drei Tage vorüber
waren, setzte er seine üblichen Proteste und politischen Kommentare
einfach fort – jedenfalls schien es so.
Womit kann ich diesen Nachruf schließen? Ich gehe
ins Jahr 1969 zurück, zu einem Artikel von Uri, den ich während
einer langweiligen Schulstunde in der achten Klasse unterm Tisch
las. Ich erinnere mich noch fast Wort für Wort daran. Es war ein
Artikel über die Zukunft. Er enthielt Uris Vorstellungen davon, wie
das Land am Unabhängigkeitstag Israels 1990 aussehen könnte. Die
Seite war in zwei Spalten geteilt und in jeder der beiden Spalten
wurde eine Zukunft ausgemalt. In der einen Zukunft findet am
Unabhängigkeitstag eine enorme Machtdemonstration statt: In
Jerusalem werden neue Panzer zur Schau gestellt. Ministerpräsident
Mosche Dajan gratuliert Soldaten der Truppe, die im Libanontal und
im Land Goschen nahe dem Nil in Bereitschaft stehen, und er sagt:
„Wir werden niemals die Stadt Be’erot (früher Beirut) aufgeben, dies
ist die Heimat unserer Vorfahren!“
In der zweiten Zukunft werden am
Unabhängigkeitstag 1990 überall in den Botschaften der arabischen
Welt feierliche Empfänge abgehalten. Das Foto, das alle am meisten
bewegt, ist in Jerusalem aufgenommen worden: Es zeigt, wie sich der
israelische Präsident Mosche Dajan und der palästinensische
Präsident Jasser Arafat herzlich umarmen.
Adam Keller ist israelischer Friedensaktivist
und gehört zu den Gründern von Gusch Schalom. Dieser Artikel wurde
zuerst in Hebräisch auf +972 Local
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https://972mag.com/israeli-peace-activist-uri-avnery-enemy-generations/137438/
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler
Adam Keller, Tel Aviv im November 2016. Foto:
Ingrid von Heiseler |