„Nicht Genug!“
Uri Avnery, 3. Februar 2018
VOR VIELEN
Jahren, direkt nach dem Fall des Bolschewismus in Ost-Europa wurde
ich gefragt, ob ich nicht ein Buch über das Ereignis schreiben
könnte. Rachel machte die Fotos – ich schrieb den Text. Das Buch,
das nur auf Hebräisch erschien, hatte den Titel „Lenin lebt nicht
mehr hier“.
Als wir Warschau besuchten, waren wir
über die vielen Plätze in der Stadt erstaunt, wo metallene Schilder
verkündeten, „ (Name) wurde hier von den Deutschen ermordet“. Bis
dahin hatten wir keine Ahnung von dem, wie der polnische Widerstand
die Nazis leidenschaftlich bekämpft hatte.
Nachdem wir wieder zu Hause waren, ging
Rachel zufällig in einen Kleiderladen und hörte die Besitzerin mit
einem Kunden Polnisch reden. Rachel noch voller Entdeckungen fragte
die Besitzerin: „Wussten Sie, dass die Nazis auch anderthalb
Millionen nicht-jüdischer Polen töteten?“
Die Frau antwortete: „nicht genügend!“
Rachel war entsetzt – ich auch.
Wir wussten natürlich, dass viele
polnische Juden das polnische Volk nicht liebten, die Intensität des
Hasses war uns aber nicht bewusst.
IN DIESER
Woche erschien der volle Hass noch einmal.
Das polnische Parlament beschloss, dass
jeder, der die Wörter „polnische Vernichtungslager“ benützt, ein
Verbrechen begeht, das mit drei Jahren Gefängnis bestraft wird. Die
richtige Bezeichnung – nach den Polen - ist Nazi-Vernichtungslager
in Polen“.
Die Berichtigung ist vollkommen in
Ordnung. Aber in Israel brach der Sturm los. Was? Warum? Die Polen
leugnen den Holocaust? Leugnen sie, dass viele Polen den Nazis
halfen, die Juden zu fangen und zu töten?
Das ist es, was viele Israelis glauben.
Natürlich, ganz falsch. Polen machte nie Frieden mit den Nazis, wie
mehrere andere europäische Länder. Die polnische Regierung floh nach
Frankreich und dann nach England, von wo sie den polnischen
Widerstand lenkte. Tatsächlich gab es zwei polnische
Untergrund-Organisationen, eine nationale und eine kommunistische.
Beide bekämpften die Nazis und bezahlten einen hohen Preis.
Ich glaube, dass es die polnische
Regierung im Exil war, die der zionistischen Führung die erste
zuverlässige Information über die Vernichtungslager gab.
Gab es polnische Kollaborateure mit den
Nazis? Natürlich gab es die, wie in jedem besetzten Land. Ohne
irgendeinen Vergleich zu ziehen, gibt es eine Menge
palästinensischer Kollaborateure in den besetzten Gebieten von
heute.
Die hauptsächlich nicht-deutschen Helfer
in den Vernichtungslagern waren Ukrainer, deren Hass gegen Russland
ließ sie mit den Nazis sympathisieren. Dieser und ihr eigener
tief-sitzender Antisemitismus, der aus der Zeit stammte, als die
Ukraine zu Polen gehörte und die Juden die Güter für die polnischen
Besitzer verwalteten.
Die Nazis bemühten sich wirklich nicht
ernsthaft darum, die polnische Zusammenarbeit zu gewinnen. Hitlers
Geheimplan war, auch die Vernichtung aller Slaven, direkt nach den
Juden, um für das deutsche Volk mehr Lebensraum zu haben.
DOCH ES
dauerte für Israel weniger als zehn Jahre vom Ende des Holocaust,
um mit dem deutschen Staat ein Abkommen zu unterzeichnen, während
der Hass gegen Polen unvermindert weiterging.
Warum?
Keiner stellte je die offensichtlichste
Frage: Wie kamen überhaupt so viele Juden – Millionen von ihnen
nach Polen, um dort zu leben?
Vor Jahrhunderten, als die Juden aus
Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern vertrieben wurden –
wohin sollten sie denn gehen? Welche europäischen Länder öffneten
ihre Tore für sie?
Nun in jener Zeit war Polen das offenste,
toleranteste Land in Europa. Fliehende Juden waren willkommen und
gründeten in Polen ein neues Heim. Der König hatte eine jüdische
Geliebte. Eine ganze jüdische Stadt wuchs neben Krakau, und dieses
wurde das Zentrum einer polnischen-jüdischen Kultur.
Ehrlich gesagt: während meines Vaters
Vorfahren aus dem Westen nach Deutschland gekommen waren, stammten
Mutters Vorfahren aus Krakau. Mein Vater, der eine klassische
Bildung bekommen hatte, bestand immer darauf, dass unsere Vorfahren
mit Julius Caesar ins Rheinland gekommen waren (es gibt keinen
Beweis), aber meine Mutter musste zugeben, dass ihr Großvater aus
Krakau gekommen war, das vor dem 1. Weltkrieg ein Teil Österreichs
war.
JENER POLNISCH-JÜDISCHE
Frühling ging vorbei. Was blieb, war die Realität einer sehr großen
jüdischen Minderheit in Polen.
Eine Minderheit, die sich radikal von
der Mehrheit unterscheidet, ist immer ein Problem. Die Juden
unterschieden sich von den Polen in Religion und Kultur. Sie
sprachen eine andere Sprache (jiddisch). Und es gab sehr viele von
ihnen. Viele Millionen.
So war es fast unvermeidbar, dass sich
zwischen den beiden großen Gruppen eine gegenseitige Abneigung
entwickelte, die sich in gegenseitigen Hass verwandelte.
Doch scheint es, dass im modernen Polen
Juden in relativer Annehmlichkeit lebten. Sie waren politisch
organisiert und bildeten Koalitionen mit anderen nicht-jüdischen
Minderheiten.
Massen polnischer Juden versuchten nach
Deutschland zu emigrieren. Die deutschen Juden, die sie
verachteten, schickte sie auf Schiffe und sandten sie in die
Vereinigten Staaten, wo sie in Wohlstand lebten.
Der klassische deutsch-jüdische Dichter
Heinrich Heine schrieb ein Gedicht, das lautet: „Krapülinsky und
Washlapsky, Polen aus der Polackei/ kämpften für die Freiheit/
gegen Moskowiter Tyrannei.// Kämpften tapfer und entkamen / endlich
glücklich nach Paris/ Denn das Leben wie das Sterben / für das
Vaterland ist süss.“
Und weiter, betrunken in einer Pariser
Bar - "Noch ist Polen nicht verloren, / unsere Frauen sie gebären /
Unsere Jungfraun tuns nicht minder - / werden Helden uns
bescheren.“
Nach der Machtergreifung Hitlers, als
deutsche Juden begannen, in Palästina anzukommen, fanden sie dort
polnische Juden, die schon vorher angekommen waren, wie Dovid Grün
(David Ben Gurion) aus Plonsk. Die deutschen Juden wurden von ihnen
mit Verachtung und Gespött empfangen.
Polnische Antisemiten wurden von den
Zionisten als natürliche Verbündete angesehen, da sie sich bemühten,
die Juden in Richtung Palästina zu stoßen. Eine Episode, 1939 nur
wenigen bekannt: eine Anzahl von Führern des Irgun-Untergrunds in
Palästina (zu dem ich dann auch gehörte) hatte eine brillante Idee:
einen bewaffneten Aufstand gegen die britischen Herrscher zu
beginnen und den jüdischen Staat zu gründen.
Nach Hilfe Ausschau haltend und
besonders nach Waffen, wandten sie sich an antisemitische
Offiziere der polnischen Armee. Das Irgun-Angebot war einfach: wir
wollten ihnen helfen, ihre Juden los zu werden. Die polnische Armee
sollte sie trainieren und sie mit Waffen ausstatten und wir setzen
sie auf Schiffe nach Palästina.
Der polnische Generalstab liebte die Idee
und trainierte junge Irgun-Mitglieder in Polen, aber der Ausbruch
des 2. Weltkriegs setzte dem Projekt ein Ende.
ES IST
diese verwirrte Beziehung vieler Jahrhunderte, die jetzt ihren
Ausdruck in dem polnisch-israelischen Zusammenstoß der letzten paar
Tage fand.
Viele Israelis sind gelehrt worden, dass
der Holocaust ein gemeinsames deutsch-polnisches Unternehmen war
und dass die Öfen von Auschwitz von Polen bedient worden sind.
War es ein Zufall, dass praktisch alle
Vernichtungslager auf polnischem Boden lagen? (Tatsächlich war es
für die Nazis ein idealer Standort, besonders nach ihrer Invasion
von Russland. Die Juden waren dort.)
ICH GLAUBE
nicht, dass diese Darstellung von Fakten helfen wird. Die Gefühle
lagern zu tief.
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)