Der Marsch der Toren
Uri Avnery, 21. Juli 2018
MAN KANN auf die
Ereignisse im Gazastreifen entweder mit dem linken oder mit dem
rechten Auge schauen. Man kann sie als unmenschlich, grausam und
töricht verurteilen oder man kann sie als notwendig und unvermeidbar
rechtfertigen. Doch da gibt es noch ein Adjektiv, das geht über die
Frage hinaus: sie sind dumm.
Falls die verstorbene Barbara Tuchman noch leben würde, könnte sie
versucht sein, noch ein Kapitel an ihr bahnbrechendes Opus „ Der
Marsch der Toren“ hinzuzufügen: ein Kapitel mit der Überschrift:
„Geblendet in Gaza“
DIE LETZTE Episode in diesem Epos begann vor ein paar Monaten, als
unabhängige Aktivisten im Gazastreifen zu einem Marsch an die
israelische Grenze aufriefen, den Hamas unterstützte. Er wurde „Der
große Marsch zur Rückkehr“ genannt, eine symbolische Geste für die
mehr als eine Million arabischer Bewohner, die 1948 flohen oder von
ihrem Land, das der Staat Israel wurde, vertrieben wurden.
Die israelischen Behörden gaben vor, dies ernsthaft zu nehmen. Ein
erschreckendes Bild wurde für die israelische Öffentlichkeit gemalt:
1,8 Millionen Araber, Männer, Frauen und Kinder, würden sich selbst
auf den Grenzzaun werfen, der an vielen Stellen durchbrochen würde,
und die sich auf Israels Städte und Dörfer stürzen würden.
Schrecklich.
Israelische Scharfschützen wurden entlang der Grenze mit der Order
aufgestellt, auf jeden zu schießen, der wie ein „Ringführer“
aussieht. An mehreren sich folgenden Freitagen (der wöchentliche
muslimische Sonntag) wurden mehr als 150 unbewaffnete Demonstranten,
einschließlich vieler Kinder, tot geschossen und viele Hunderte
ernsthaft durch Schießerei verletzt, abgesehen von jenen, die durch
Tränengas verletzt wurden.
Das israelische Argument war, dass die Opfer erschossen wurden,
während sie versuchten, „die Zäune zu stürmen“. Tatsächlich war kein
einziger dieser Versuche fotografiert worden, obwohl Hunderte von
Fotografen auf beiden Seiten des Zauns postiert waren.
Angesichts eines weltweiten Protestes, ließ die Armee die Befehle
ändern und jetzt werden nur selten Unbewaffnete getötet. Die
Palästinenser veränderten auch ihre Taktiken: Die Haupt-Bemühung
galt jetzt dem Fliegen der Kinderdrachen, und sie mit brennendem
Schwanz nach Israel zu schicken und israelische Felder in Brand zu
setzen.
Da der Wind fast immer aus dem Westen weht, ist es eine leichte
Sache, Israel zu verletzen. Das können Kinder tun und sie tun es.
Jetzt verlangt der Minister für Erziehung, dass die Luftwaffe die
Kinder bombardiert, der Stabschef weigert sich und erklärt ihm, dass
dies gegen die Werte der israelischen Armee sei.
Gegenwärtig sind unsere Zeitungen und Fernsehnachrichten voll mit
Gaza beschäftigt. Jeder scheint mit Gaza übereinzustimmen, dass
früher oder später ein Krieg dort ausbrechen würde.
DER-HAUPT-Charakter dieser Übung ist seine äußerste Dummheit.
Jede militärische Aktion muss ein politisches Ziel haben. Wie der
deutsche militärische Denker Carl von Klausewitz berühmterweise
sagte: „Krieg ist nichts weiter als die Fortsetzung der Politik mit
andern Mitteln.“
Der Gazastreifen ist 41 km lang und 6 bis12 km breit. Er ist einer
der am engsten besiedelten Orte auf der Erde. Dem Namen nach gehört
er zum größten Teil theoretisch zum Staat von Palästina, wie die
Westbank, aber er ist nicht direkt von Israel besetzt. Dieser
Streifen ist tatsächlich von der radikalen muslimischen Hamas-Partei
beherrscht.
In der Vergangenheit strömten täglich Massen palästinensischer
Arbeiter aus dem Gazastreifen nach Israel. Aber seitdem die Hamas im
Gazastreifen die Macht übernommen hat, hat die israelische Regierung
fast eine totale Blockade über Land und Meer verhängt. Die
ägyptische Diktatur, ein naher Verbündeter Israels und ein Todfeind
des radikalen Islam, arbeitet mit Israel zusammen.
Was wünscht Israel? Die bevorzugte Lösung ist, den ganzen Streifen
und seine Bevölkerung ins Meer zu versenken. Da dies nicht gut geht,
was kann dann getan werden.
Das Letzte, was Israel wünscht, ist, den Streifen mit seiner
riesigen Bevölkerung, die nicht ausgetrieben werden kann, zu
annektieren. Israel wünscht, keine Siedlungen im Gazastreifen
aufzubauen (die wenigen, die dort aufgebaut wurden, wurden von Ariel
Scharon abgerissen, der dachte, es lohne sich nicht, sie zu halten
und zu verteidigen).
Die wirkliche Politik ist, das Leben in Gaza so miserabel zu machen,
dass die Gazaner selbst sich erheben und die Hamas-Behörden
hinauswerfen. Mit diesem im Sinn wurde die Wasserversorgung auf zwei
Stunden pro Tag reduziert, mit dem Strom geschah dasselbe. Mit der
Beschäftigung steht es bei rund 50%, der Lohn ist unter dem Minimum.
Es ist ein Bild totalen Elends.
Da alles, das Gaza erreicht, durch Israel (oder Ägypten) kommt, sind
Vorräte oft tagelang vollständig abgeschnitten – als „Strafe“.
Leider zeigt die Geschichte, dass solche Methoden selten Erfolg
haben. Sie vertiefen nur die Feindschaft. Was kann also getan
werden?
DIE ANTWORT ist unglaublich einfach: sich zusammen hinsetzen,
miteinander reden und ein Abkommen erreichen.
Ja, wie kann man mit einem Todfeind zusammen sitzen, dessen
offizielle Ideologie einen jüdischen Staat total ablehnt?
Der Islam, der(wie jede Religion) auf alles eine Antwort hat, kennt
so etwas, das sich Hudna nennt, die ein anhaltender Waffenstillstand
ist. Dieser kann viele Jahrzehnte dauern und wird (religiös)
gehalten.
Mehrere Jahre lang hat Hamas beinahe offen darauf hingedeutet, dass
es für eine lange Hudna bereit wäre. Ägypten hat sich bereit
erklärt, zu vermitteln. Unsere Regierung hat das Angebot total
ignoriert. Eine Hudna will der Feind. Kommt nicht in Frage, Gott
bewahre! Das würde schrecklich unpopulär sein.
Aber es würde das sensible Ding sein, das zu tun wäre. Stoppt alle
feindseligen Akte von beiden Seite, sagen wir mal für 50 Jahre. Hebt
die Blockade auf. Baut einen wirklichen Hafen in Gaza-Stadt. Erlaubt
freien Handel zwischen Gaza unter einer Art militärischer
Inspektion. Dasselbe für einen Flughafen. Macht Gaza zu einem 2.
Singapur. Erlaubt freie Bewegung zwischen Gaza und der Westbank
durch eine Brücke oder eine exterritoriale Hochstraße. Erlaubt
Arbeitern, in Israel Arbeit zu finden, anstelle von Arbeitern aus
China und Rumänien.
WARUM NICHT? Allein die Idee wird von einem gewöhnlichen Israeli
zurückgewiesen.
Ein Geschäft mit der Hamas? Unmöglich!!! Hamas wünscht Israel zu
zerstören. Jeder weiß das.
Ich höre dies viele Male und wundre mich über die Dummheit der
Leute, die dies wiederholen.
Wie kann eine Gruppe von ein paar hundert Tausend eine der am
schwersten bewaffneten Staaten, die Nuklear-Waffen besitzen,
zerstören? Wie? Mit Drachen?
Donald Trump und Vladimir Putin erweisen uns Ehrerbietung. Der Welt
faschistische Diktatoren und liberale Präsidenten kommen zu Besuch.
Wie kann Hamas eine tödliche Gefahr darstellen?
Warum stoppt Hamas nicht selbst die Feindseligkeiten. Hamas hat
Konkurrenten, die sogar noch radikaler sind. Sie wagt nicht,
irgendein Zeichen von Schwäche zu zeigen.
VOR EIN paar Jahrzehnten hat die arabische Welt auf die Initiative
Saudi Arabiens Israel unter mehreren Bedingungen den Frieden
angeboten – alle waren akzeptabel. Aufeinander folgende Regierungen
haben sie nicht nur nicht akzeptiert, sie haben sie alle ignoriert.
Darin steckte einige Logik. Die israelische Regierung wünscht, die
Westbank zu annektieren. Sie will, dass die arabische Bevölkerung
rausgeht und mit jüdischen Siedlern ersetzt wird. Sie führt diese
Politik langsam und vorsichtig, aber konsequent durch.
Es ist eine grausame Politik, eine widerwärtige Politik, doch ist
einige Logik darin. Wenn man wirklich dieses abscheuliche Ziel hat,
dann mag die Methode adäquat sein. Aber dies passt nicht zum
Gazastreifen, den keiner zu annektieren wünscht. Dort sind die
Methoden schlicht dumm.
DIES BEDEUTET nicht, dass die allgemeine israelische Politik
gegenüber den Palästinensern irgendwie weise ist. Sie ist es nicht.
Benjamin Netanjahu und seine handverlesenen dummen Minister haben
keine Politik. Oder so sieht es aus. Tatsächlich haben sie eine
unerklärte: eine schleichende Annexion der Westbank.
Dies geht jetzt mit einer größeren Geschwindigkeit als vorher. Die
täglichen Nachrichten geben den Eindruck, dass die ganze
Regierungsmaschine sich jetzt auf dieses Projekt konzentriert.
Dies wird direkt auf einen Staat im Apartheid-Stil führen, wo eine
große jüdische Minderheit eine arabische Mehrheit dominiert.
Für wie lange? Eine Generation? Zwei? Oder drei?
Es ist gesagt worden, dass eine kluge Person in der Lage ist, sich
selbst aus einer Falle zu ziehen, in die eine weise Person niemals
gefallen sein würde.
Eine dumme Person zieht sich nicht selbst heraus. Sie ist sich nicht
einmal der Falle bewusst.
(dt. Ellen Rohlfs und
vom Verfasser autorisiert)
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