Der große Tag
-Uri Avnery - 21.April 2018
- VOR ZWEI TAGEN feierte der
Staat Israel seinen 70. Geburtstag. Tagelang hörten wir nichts
anderes. Unzählige Reden voller Platituden. Ein riesiges
Kitsch-Festival. - Jeder stimmte zu: Es war ein historischer
Augenblick, als David Ben-Gurion sich in einem kleinen Saal in
Tel-Aviv erhob und die Gründung des Staates erklärte. Jeder von
damals, der noch lebt, wurde diese Woche gefragt: Wo waren Sie in
diesem Augenblick? Was fühlten Sie, als die Geschichte an die Tür
klopfte? NUN JA, ich lebte. Und ich fühlte gar nichts.
Ich war Soldat in der neuen Armee, die noch nicht die “Israelische
Verteidigungsarmee” genannt wurde (das ist ihr offizieller
hebräischer Name). Meine Kompanie hatte ein kleines Zeltlager in
Hulda, einem Kibbutz südlich von Tel Aviv. Wir sollten in der Nacht
ein arabisches Dorf, dessen Name al-Kubab war, in der Nähe von Ramle
angreifen. Heftiger Widerstand wurde erwartet, und wir trafen gerade
alle Arten von Vorbereitungen, wie Soldaten es vor einem Kampf tun,
als jemand angerannt kam und schrie: “Schnell, in den Speisesaal,
Ben-Gurion erklärt den Staat!” Im Speisesaal des Kibbutz war das
einzige Radio in der Umgebung. Jeder rannte dorthin, ich auch. Offen
gesagt, mir war die Erklärung völlig gleichgültig. Wir waren mitten
in einem verzweifelten Krieg – verzweifelt für beide Seiten - , und
wir wussten, dass der Krieg entscheiden würde, ob unser Staat
entstünde oder nicht. Wenn wir den Krieg gewinnen würden, gäbe es
einen Staat. Wenn wir ihn verlören, gäbe es weder einen Staat, noch
uns.
Eine Rede eines Politikers irgendwo in Tel-Aviv würde daran
überhaupt nichts ändern. Aber ich war neugierig im Hinblick auf ein
Detail: Wie würde der neue Staat genannt werden? Es hatte mehrere
Vorschläge gegeben, und ich wollte wissen, welcher übernommen wurde.
Als ich das Wort "Israel" hörte, verließ ich den Speisesaal und ging
zurück, um mein Gewehr zu reinigen. Der heftige Kampf fand übrigens
nicht statt. Als wir das Dorf von zwei Seiten angriffen, flohen die
Bewohner. Wir drangen in leere Häuser ein, wo das noch warme Essen
auf den Tischen stand. Den Bewohnern sollte nie mehr erlaubt werden,
zurückzukehren. Am nächsten Morgen wurde meine Kompanie in den Süden
verlegt. Die ägyptische Armee drang in Palästina ein, und wir
sollten sie aufhalten, bevor sie Tel Aviv erreichten. Aber das ist
eine andere Geschichte.
DAVID BEN-GURION, dessen Stimme ich an diesem Nachmittag im Radio
gehört hatte, ist nun für alle Zeiten zum Nationalhelden geworden,
der Mann, der den Staat Israel gegründet hat. Diese Woche lief eine
Dokumentation über ihn im Fernsehen. Der Direktor, Raviv Drucker,
ein ausgezeichneter Journalist, hat einen sehr guten Film
produziert. Er zeigt Ben-Gurion, wie er wirklich war, mit all seinen
Licht- und Schattenseiten. Im Vergleich zu ihm waren seine
Nachfolger im Amt des Premierministers zweite Wahl, ganz zu
schweigen von dem amtierenden Besetzer, der gegen ihn ein Knirps
ist.
Ben-Gurion war derjenige, der die Entscheidung traf, die Gründung
des Staates in diesem besonderen Augenblick zu erklären, als der
letzte britische Besetzer das Land verlassen hatte und vier Armeen
der benachbarten Araberstaaten kurz davor standen, in das Land
einzudringen. Seine Kollegen waren erschrocken über die Entscheidung
und mussten von ihm gedrängt werden. Offen gesagt, ich glaube nicht,
dass diese Entscheidung so bedeutsam war. Wenn die Erklärung um
einige Monate verschoben worden wäre, hätte das keinen großen
Unterschied gemacht. Nachdem wir den Krieg gewonnen hatten, wenn
auch mit schweren Verlusten, hätten wir den Staat zu jeder Zeit
erklären können.
Obwohl die Dokumentation meistens korrekt ist, weist sie doch einige
Fehler auf. Zum Beispiel zeigt sie Massen in Tel Aviv, die die
Erklärung auf den Straßen bejubeln. Das ist eine Fälschung. Da sie
so oft wiederholt wurde, kann man Drucker verzeihen, dass er sie für
die Wahrheit gehalten hat. In Wirklichkeit jubelten die Massen im
November 1947, als die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in
einen arabischen und einen jüdischen Staat beschlossen (mit einem
Sonderstatus für Jerusalem). Als der jüdische Staat offiziell am 14.
Mai gegründet wurde und Ben-Gurion diese Rede hielt, waren die
Straßen leer. Die Jugend war in der Armee, die Älteren waren zu
besorgt, um zu jubeln.
In diesem Krieg wurden 6.300 von uns getötet – von insgesamt 630.000
Menschen der jüdischen Bevölkerung. Das Äquivalent von drei
Millionen US-Bürgern heute. Bedeutend mehr wurden verwundet
(darunter auch ich Ärmster. Die Verluste auf arabischer Seite waren
sogar noch höher, in absoluten Zahlen.
BEN-GURIONS VORLIEBEN waren vielfältig und bunt. Er liebte es, sich
als großer Philosoph darzustellen, und die Dokumentation zeigt ihn,
wie er viele hundert Bücher in Empfang nimmt, die ein reicher
britischer Jude bezahlt hat - was nach dem heutigen israelischen
Recht eine Straftat wäre. Be-Ge (wie wir ihn nannten), mischte sich
in die Kriegsführung ein. Einige seiner irren Entscheidungen
kosteten viele Leben. Er veränderte auch den Charakter der Armee, in
einer Art und Weise, die wir sehr hassten. Aber alle seine guten und
schlechten Entscheidungen waren unerheblich, verglichen mit seiner
wahren historischen Rolle: seine Entscheidung, Israel in ein
Bollwerk gegen die wachsende arabische Welt zu verwandeln.
Selbstverständlich war die zionistische Bewegung von Beginn an ein
bewusster Teil des europäischen Kolonialismus. In seinem Buch “Der
Judenstaat”, versprach der Gründer, Theodor Herzl bereits, dass der
Staat “Teil des Walles der europäischen Kultur gegen das asiatische
Barbarentum“ werden wird.” Aber es war Ben-Gurion, der dieses vage
Versprechen in die Tatsache umsetzte, vom ersten Tag Israels an.
Gemäß seinem ersten Biographen hasste er die Araber und die
arabische Kultur von seinem ersten Tag in Palästina an. Er
unterdrückte die arabische Minderheit in Israel und weigerte sich,
Israels Grenzen zu ziehen. Das zugrundeliegende Ziel des Zionismus
war und ist von Anfang an, die Araber aus ihrem Land zu vertreiben,
um dort eine neue jüdische Nation zu schaffen. Das wurde nie offen
gesagt, aber war von Anfang an klar.
Alle Vorgänger Ben-Gurions, bis hin zu dem gegenwärtigen Besetzer im
Amt, folgten dieser Linie. Sogar an seinem 70. Geburtstag erkennt
Israel keine offiziellen Grenzen an. Obwohl wir offizielle
Friedensabkommen mit zwei arabischen Staaten (Ägypten und Jordanien)
haben und eine inoffizielle Kooperation mit mehreren anderen, werden
wir von hundert Millionen Arabern und anderthalb Milliarden Muslimen
gehasst. Und, noch bedeutender: wir befinden uns im Krieg mit dem
gesamten palästinensischen Volk. Das ist das wahre Vermächtnis von
Ben-Gurion.
ICH BIN nicht ganz objektiv bei diesem Thema. Auch ich führte gegen
Ben-Gurion einen Krieg. Je länger seine Herrschaft dauerte, desto
autokratischer wurde er. Insgesamt war er, von seiner Machtübernahme
in der vorstaatlichen zionistischen Bewegung an, 30
aufeinanderfolgende Jahre der oberste Führer. Kein Mensch kann so
lange an der Macht bleiben, ohne ein wenig irre werden. Bald nach
dem Krieg wurde ich der Eigentümer und Chefredakteur eines
Nachrichtenmagazins und begann, ihn scharf zu kritisieren: seine
zunehmend diktatorische Art, seine kolonialistische Behandlung der
Palästinenser, seine Anti-Friedenspolitik, seine reaktionäre
sozial-ökonomische Politik und die Korruption vieler seiner
Anhänger.
Der Chef des Sicherheitsdienstes nannte mich öffentlich den “Feind
Nr. 1 der Regierung”. Einmal schlug der Sicherheitschef (Spitzname:
“Kleiner Issar”) Ben-Gurion vor, mich in “Administrativhaft” zu
nehmen – eine Festnahme ohne Gerichtsbeschluss. Ben-Gurion stimmte
zu, aber unter einer Bedingung: dass der Oppositionsführer, Menachem
Begin, stillschweigend zustimmen würde. Begin weigerte sich
entschieden und drohte, einen Riesenskandal zu verursachen. Er
sandte mir auch eine geheime Warnung. Mein Büro wurde mehrere Male
bombardiert, ich selbst wurde angegriffen. Man brach mir die Hände.
(Wie ich schon oft sagte, war dieser Angriff ein Glück im Unglück.
Eine junge Frau, genannt Rachel, bot freiwillig an, bei mir
einzuziehen, um mir ein paar Wochen lang zu helfen und blieb für 53
Jahre, bis zu ihrem Tod).
Auf dem Höhepunkt unseres Kampfes befahl Ben-Gurion dem
Nationaltheater (Habima), ein Stück zu produzieren, das offen gegen
mich gerichtet war. Es zeigte einen bösartiger Verleger einer
Wochenzeitung, der Menschen gerne schlecht machte. Obwohl er nie ins
Theater ging, besuchte er diese Premiere. Der Film zeigt ihn, seine
Frau und Kollegen, wie sie wild applaudieren. Das Stück überlebte
keine drei Vorstellungen.
MAN MUSS zugeben, dass er ein sehr mutiger Führer war. Obwohl er ein
überzeugter Anti-Kommunist war, ließ er Stalin Israel in dem
Unabhängigkeitskrieg von 1948 mit Waffen unterstützen. Er schloss
nach gerade mal acht Jahren nach dem Holocaust Frieden mit
Deutschland, weil der junge Staat unbedingt Geld benötigte. Er
schloss mit Frankreich und England die berühmte Absprache, um
Ägypten anzugreifen (mit katastrophalen Ergebnissen)
Am Ende umgab er sich mit jungen Anhängern – Moshe Dayan, Teddy
Kollek, Shimon Peres und anderen, seine älteren Kollegen fürchteten
sich vor ihm. Sie verbündeten sich gegen ihn und warfen ihn hinaus.
Seine Bemühungen, eine neue Partei zu gründen und ein Comeback zu
inszenieren, landeten in einer Sackgasse. Am Ende schlossen auch wir
eine Art Frieden.
Wenn wir heute zurück auf seine gesamte Karriere blicken, müssen wir
zugeben, dass sein Einfluss auf das heutige Israel gewaltig ist.
Wohl oder übel war er es, der die Weichen stellte, auf denen Israel
noch heute rollt. Meistens zum Schlechten hin.
Übersetzt von (Inga Gelsdorf)
|