Der Fall des Soldaten A.
Uri
Avnery, 9.April 2016
ES SCHEINT,
dass alles irgendwie Mögliche schon gesagt, geschrieben, verkündet,
behauptet und verleugnet worden ist und zwar über den Vorfall, der
Israel erschüttert hat.
Alles, außer der
Hauptsache.
DER ZWISCHENFALL
dreht sich um „den Soldaten von Hebron“. Die Militär-Zensur erlaubt
nicht, dass er mit Namen genannt wird. Er kann Soldat A genannt
werden.
Es geschah im Tel
Rumaida-Viertel in der besetzten südlichen Westbankstadt Hebron, wo
eine Gruppe von super-extremen Siedlern vom rechten Flügel mitten
unter etwa 160 000 Palästinensern lebt. Sie werden schwer von der
israelischen Armee beschützt. Es wimmelt von gewalttätigen
Zwischenfällen.
An dem besagten Tag
griffen zwei lokale Palästinenser einige Soldaten mit Messern an.
Beide wurden auf der Stelle angeschossen. Der eine von ihnen wurde
getötet, der andere schwer verletzt und lag auf dem Boden.
Der Platz war voller
Leute. Sanitäter wandten sich dem verletzten Soldaten( aber nicht
dem Palästinenser)zu, mehrere Offiziere und Soldaten standen mit
einigen Siedlern herum.
Nach sechs Minuten
erschien Soldat A auf der Bühne. Er sah sich vier Minuten um, dann
näherte er sich dem verletzten Angreifer und schoss ihn aus der Nähe
kaltblütig eine Kugel in den Kopf. Die Autopsie zeigte, dass dies
tatsächlich der Schuss war, der ihn tötete.
Als Schluss-Szene
zeigt die Aufnahme den Soldaten A, wie er einem der Siedler, dem
berüchtigten Baruch Marzel, einem Führer der geächteten Partei des
verstorbenen Meir Kahane, die Hand schüttelt. Letzterer wurde vom
Obersten Gericht als Faschist bezeichnet.
BIS DAHIN
gibt es keine Diskussion über die Fakten. Aus einem einfachen Grund
wurde der ganze Zwischenfall von einem einheimischen Palästinenser
aus ziemlicher Nähe fotografiert. Die israelische
Menschenrechtsgruppe B’tselem hat vielen Palästinensern eine
Video-Camera gegeben, um genau solch eine Eventualität aufzunehmen.
(B’tselem ist ein
biblischer Name und bedeutet „Nach (Seinem) Bild“. Nach Genesis 2
schuf Gott den Menschen „nach seinem Bild“. Dies ist eines der
menschlichsten Verse in der Bibel, da dies bedeutet, dass alle
Menschen ohne Unterschied nach dem Bilde Gottes geschaffen sind).
Die Video-Camera
spielt bei diesem Vorfall eine bedeutende Rolle. In der
gegenwärtigen Intifada, sind viele arabische Angreifer bei solchen
Vorfällen getötet worden. Es gibt einen starken Verdacht, dass viele
von ihnen exekutiert wurden, nachdem sie schon „neutralisiert“
wurden – die Armee spricht so von arabischen Angreifern, die keinem
mehr Leid antun können, weil sie tot sind, schwer verletzt oder
gefangen genommen wurden.
NACH ISRAELISCHEN
Armee-Befehlen ist es Soldaten nicht erlaubt, feindliche Angreifer
zu töten, wenn sie keine Gefahr mehr darstellen. Andrerseits glauben
viele Politiker und Armeeoffiziere, dass es „Terroristen nicht
erlaubt werden soll, nach einem Angriff am Leben zu bleiben“. Dies
war ein inoffizieller Befehl des verstorbenen Ministerpräsidenten
Yitzhak Shamir. (Er selbst war ein hervorragender Terrorist).
Doch das
Armee-Kommando hat niemals diese Regel akzeptiert. Als in Shamirs
Tagen als Ministerpräsident der Shin Bet-Chef zwei gefangene
Busentführer tötete, stand er einer strafbaren Anklage gegenüber bis
er vom Präsidenten begnadigt wurde. Er wurde entlassen.
Bei einem anderen
Vorfall wurde ein palästinensisches Mädchen, ein Teenager, das auf
der Straße mit einer Schere herumrannte, aus geringem Abstand von
einem Polizisten totgeschossen.
In all diesen
speziellen Fällen war es die Video-Camera, die etwas bewegte.
(Vielleicht sollte das göttliche Gebot berichtigt werden: Du sollst
nicht töten, wenn eine Camera in der Nähe ist!)
Der Kommandeur des
Soldaten A fragte ihn auf der Stelle, warum er den verletzten
Palästinenser erschoss. Der Soldat A antwortete spontan: „Er
verletzte meinen Kameraden – also verdient er zu sterben“.
Bald danach wurde ihm
klar, dass dies die falsche Antwort war, also berichtigte er sie.
„Er bewegte sich und ein Messer lag neben ihm, also fühlte ich mich
bedroht.“ Es zeigte sich, dass ein anderer Soldat das Messer schon
weggeschubst hatte.
Später gab er einen
anderen Grund an, an dem er seitdem blieb. Ich sah eine Wölbung
unter seiner Jacke und dachte, dass er einen Bombengürtel anhatte.
Ich schoss, um das Töten von jemand anderen hier zu verhindern.“ Das
ist höchst unwahrscheinlich, da der Filmmitschnitt deutlich zeigt,
dass all die anderen Leute in der Nähe nicht beunruhigt waren. Der
verletzte Mann war schon untersucht worden. Die Militärpolizei
verkündigte also, dass sie den SoldatenA wegen Mordes anklagen.
EIN RIESIGER
Sturm brach aus. Im ganzen Land griffen die Rechten, die Siedler,
die Politiker und andere das Armee-Kommando in einer nie zuvor
gehörten Sprache an.
Der Bildungsminister
Naftali Bennet, der Führer der extremen Rechten „Jüdisches
Heim“-Partei griff wütend den Verteidigungsminister, ein früherer
Stabschef, der ein moderater Likud-Rechter ist, an.
Der gegenwärtige
Stabschef Gadi Eizenkot, hat sich nicht abschrecken lassen. Er
wiederholt die Armee-Order und unterstützt die Aktionen der
Militär-Polizei gegen den Mob, die die Sozial-Medien mit Tausenden
von Botschaften überfluten und das Armee-Kommando verfluchten.
Benjamin Netanjahu unterstützte zunächst schwach den
Verteidigungsminister, dann wurde er still.
Dies war nur der
Beginn. Die Eltern des Soldaten A griffen das Armee-Kommando in den
Medien an, dass sie ihren Baby Sohn „im Stich lassen“. Die
Mitglieder der Armee-Einheit verfluchten offen ihre Kommandeure und
die Militärpolizei. Im ganzen Land tönte der Schrei, dass der Soldat
A ein „Held“ sei.
Demonstrationen von
Soldaten und Zivilisten fanden vor dem Militärgericht innerhalb
eines Armee-Compounds statt. Minister und Knesset-Mitglieder kamen
in den Gerichtsraum, um ihre Solidarität mit dem „Held“ zu
demonstrieren. Der Armeechef und der Verteidigungsminister wurden
vom Mob aufgerufen, abzutreten.
ICH WÜRDE
hier gern meine persönlichen Bemerkungen hinzufügen
Im Krieg 1948 war ich
ein Soldat in einer Kommando-Einheit, die mit einem Ehrentitel
ausgezeichnet wurde: die „Samson- Füchse“. Ich nahm an etwa 50
Gefechten teil. Ich schrieb zwei Bücher über diese Erfahrungen. Das
erste „Auf den Feldern der Philister“ wurde während des Krieges
geschrieben und beschrieb die Schlachten. Alles Geschriebene war die
Wahrheit und nur die Wahrheit – aber nicht die ganze Wahrheit. Das
zweite Buch „Die andere Seite der Münze“, das sofort nach dem Krieg
veröffentlicht wurde, beschrieb die dunkle Seite des Krieges,
einschließlich der Kriegsverbrechen.
Auf Grund dieser
Erfahrung wage ich zu behaupten: jeder der den Soldaten A einen
Helden nennt, beleidigt die Hundert Tausenden von anständigen
Soldaten, die in der israelischen Armee seit damals bis heute
dienten und unter ihnen wirkliche Helden, (wie die vier
marokkanisch-jüdischen Soldaten, die ihr Leben riskierten und mich
unter Feuer in Sicherheit brachten, als ich verwundet wurde.)
Ein Held ist ein
Soldat, der sein Leben riskiert, um einen Kameraden zu retten oder
um eine andere wichtige Aufgabe auszuführen. Jemand der einen
verwundeten Feind erschießt, ist kein Held, und ihn so zu nennen,
ist eine Beleidigung der anständigen Soldaten, die versuchen, ihre
Menschlichkeit unter harten—manchmal unmöglichen - Umständen zu
bewahren.
Ein anständiger
Soldat braucht keine Armee-Order, um zwischen erlaubten und
verbotenen zu unterscheiden, zwischen annehmbaren und kriminellen,
zwischen einem Held und einem blutrünstigen Feigling. Er weiß das
einfach.
EINIGE LEUTE
mögen sich über meine Haltung gegenüber der Armee wundern.
Ich bin ein Pazifist.
Ich hasse den Krieg und Gewalt. Aber ich bin kein Einfaltspinsel.
Ich weiß, dass jedes Land eine Armee braucht, nicht nur in
Kriegszeiten, sondern auch in Friedenzeiten.
Eine Armee ist eine
Tötungsmaschine. Aber nach dem grauenhaften 30-Jährigen Krieg im 17.
Jahrhundert legte die zivilisierte Menschheit Grenzen fest. Kurz
gesagt, Gewalt wird erlaubt, wenn sie den Zwecken des Krieges dient,
ist aber absolut verboten, wenn sie gegen hilflose Menschen
angewandt wird, wie Gefangene und Verletzte.
Wie einige von uns
voraussahen, haben 50 Jahre Besatzung unsere Armee in vieler
Hinsicht korrumpiert. Es ist nicht mehr die Armee, in der ich
diente. Es ist nicht eine Armee, auf die ich stolz sein kann. Sie
ähnelt mehr einer kolonialen Polizeikraft als einer Armee, deren
Pflicht es ist, unsern Staat in einer turbulenten Nachbarschaft zu
verteidigen.
Ausländer mögen sich
über die Tatsache wundern, dass in Israel das Armee –Kommando im
Allgemeinen moderater ist als die Regierung und die Politiker. Aus
historischen Gründen ist das immer so gewesen. Ich gebe dem
Armee-Kommando die Schuld für viele Fehler und Verbrechen, aber ich
muss sie für ihre Charakter-Stärke in diesem Fall loben.
DIE HAUPTPUNKTE
dieses Zwischenfalls, die keiner auszusprechen wagt, dass das erste
Mal in der Geschichte Israels wir Zeugen einer Meuterei sind.
Es gibt keine andere
Art und Weise, dies zu definieren.
Eine Gruppe Soldaten,
unterstützt von einem größeren Teil der politischen Szene, hat gegen
ihre Kommandeure gemeutert. Dies ist eine größere Bedrohung für den
Staat, eine Infrage-Stellung von dem, was von unserer Demokratie
übrig bleibt.
Die Fäulnis, die in
den besetzten Gebieten begann, breitet sich im Land aus. Dies hat
sich jetzt in der einen Institution manifestiert, die bis jetzt von
allen (jüdischen) Israelis geliebt wurde, der Armee.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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