Juden und Deutsche – Zwischen
aufgeklärter und verklärter Symbiose
Reuven Moskowitz, Jerusalem,
Nov. 2009/ Januar 2010
Die Gemeinsamkeiten zwischen
Juden und Deutschen über Generationen hinweg sind
offensichtlich. Umstritten bleibt bis heute die Frage der
symbiotischen Verhältnisse seit der Blüte der Aufklärung
sowie die Emanzipierung der deutschen Juden im neunzehnten
Jahrhundert mit einem Höhepunkt in der Weimarer Republik und
einem Tiefpunkt mit ihrem Untergang.
Typisch für Menschen und
Wissenschaftler, die oft umsteigen von einer Position zu
einer anderen unter dem Einfluss von politischen Umwälzungen
und ideologischen Enttäuschungen, ist der Streit über die
Frage, ob eine Symbiose tatsächlich existiert hat. So
glaubte zum Beispiel Martin Buber, obwohl Zeitgenosse der
NS-Schreckenherrschaft, bis an sein letztes Lebensjahr,
unerschüttert, nicht nur an die Existenz der Symbiose,
sondern an ihre schöpferische gegenseitige Wirkung und
Befruchtung. Gershon Sholem, hingegen, hat einen
„flick–flack Sprung“ gemacht von begeisternder Aufklärung
zur Verschanzung in der oft okkkultischen Kabala. Der
zeitgenössische Reporter, Schriftsteller und Forscher Amos
Eylon hat über die obengenannte Symbiose eine glänzende
Studie geschrieben. Seiner Meinung nach ist diese Symbiose
nicht erst mit dem Nationalsozialismus zu einem Ende
gekommen, sondern zeigte sich schon lange zuvor als
einseitige Liebe.
Es mag stimmen, wenn man
automatische Gegenseitigkeit oder Ergebnisse in der Spanne
von zwei oder drei Generationen erwartet. In dem
erstaunlichen Übergang des deutschen Judentums von einer
verfolgten, benachteiligten und dämonisierten religiösen
Minderheit zu einer sich rasch und erfolgreich
integrierenden Gemeinschaft kam unausweichlich Neid, Angst
und Empörung über eine verachtete Minderheit, die sich in
der Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur und Politik
auszeichnete. Die Bereitschaft der deutschen Aristokratie
und des aufsteigenden Bürgertums, Juden gesellschaftlich zu
integrieren, konnte mit der Integrationsbereitschaft der
aufsteigenden Juden nicht Schritt halten. Diese Tatsache
aber bedeutet nicht, dass es nicht einen strukturellen
Prozess zur Symbiose gab.
Mit dem Übergang Europas von
der universalen Aufklärung zu nationaler Engstirnigkeit,
kolonialer Machtgier und finanzieller Habgier, schließlich
mit dem Untergang der Weimarer Republik und der Ausrottung
des europäischen Judentums und jüdischer Kultur, musste auch
die Symbiose untergehen.
Oft kommt es darauf an, von
welchem Blickpunkt man eine Erscheinung betrachtet. Mit
Recht behauptet Antoine de Saint Exupery: "Um klar zu sehen,
genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung". Das symbiotische
Verhältnis zwischen Juden und Deutschen nur aus der
Blickrichtung des Nationalsozialismus oder des Holocausts,
kann irreführen. Das kann sogar zu gefährlichen
Pervertierungen führen. Ich finde, dass man durchaus von
einer zeitgenössischen deutsch-jüdischen Symbiose sprechen
kann. Diese Symbiose pervertiert allerdings die unter Hitler
untergegangene Symbiose, die eigentlich sehr hoffnungsvoll
und erfolgreich hätte sein können. Heute kann man von einer
fast kriminellen deutsch-jüdischen Symbiose sprechen. Diese
entstand aus der Tragik der Geschichte. Das
führte dazu, dass die
meisten Juden sich als ultimative Opfer fühlen und
darstellen, auch wenn sie eigentlich schon Täter geworden
sind. Dagegen nehmen die Deutschen eine Schuldidentität an,
auch wenn sie schon keine Täter mehr sind. Die Folgen zeigen
sich als katastrophal. Die deutsche Außenpolitik hat sich
seit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Israel
total der israelischen "Sicherheitspolitik" unterworfen.
Wegen des „besonderen Verhältnisses“ ,das Deutschland mit
Israel verbindet, solidarisiert sich Deutschland fortwährend
und undifferenziert mit der Politik Israels, die sich schon
seit der Staatsgründung als friedenswidrig zeigt.
Allerdings bleibt es eine
Tatsache, dass Deutschland bis zum Ende der Ära von Willy
Brandt konsequent eine Friedenspolitik betrieben hat, die
zur Versöhnung mit allen ehemaligen Feinden führte. Mit dem
kritiklosen Einlenken auf die neue konservative und
neoliberale Politik der USA hat die Führung der
Bundesrepublik jedoch eine gefährliche Grenze überschritten.
Die deutsche Außenpolitik schließt den Krieg oder die
Kriegsbeteiligung als Fortsetzung der Politik nicht mehr
aus. Diese gefährliche Grenze hat nicht nur die SPD
überschritten, sondern auch Joschka Fischer als
Außenminister. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist die
Erklärung der Bundeskanzlerin Merkel, dass bedingungslose
Solidarität mit Israel deutsche Staatsraison ist.
Tatsache für jeden nüchternen
und gut informierten
Beobachter ist auch, dass Israel Krieg, Gewalt, Verletzungen
von Menschen- und Völkerrecht als einzige Staatsraison in
die Beziehungen zu den palästinensischen Nachbarn eingeführt
hat. Eine weitere Tatsache ist, dass wenn Israel mit Ägypten
und Jordanien Frieden hat, das nur auf die ausdrückliche
Mitwirkung der USA zurückzuführen ist. In den Londoner
Verträgen, die über die Nürnberger Prozesse zur Verurteilung
der Nazi-Führer führten, heißt es, dass ein Verbrechen gegen
den Frieden das größte Verbrechen gegen die Menschheit
bedeutet!
Auch wenn es ungewöhnlich ist
für einen Israeli, der den Staat Israel bejaht, so muss ich
doch bekennen, dass Israel sich dieses Verbrechens schuldig
gemacht und in den vergangenen 60 Jahren keine aufrichtige
Friedenspolitik betrieben hat. Man begrüßt sich mit "Shalom"
und beteuert leidenschaftlich den Friedenswillen, während
man sich nie wirklich mit einem jüdischen Staat in den
Grenzen abgefunden hat, die von den Vereinten Nationen am
29. November 1947 entschieden wurden.
Diese Tatsachen bedeuten auf
keinen Fall, dass die arabische Welt und die Palästinenser
nicht aktiv zur Schaffung und Eskalierung dieser Tragödie
beigetragen haben. Mit einem wesentlichen Unterschied: die
verständliche Empörung über das Wagnis der Vereinten
Nationen, einen Teil von Palästina den Juden zu geben, war
es, die in der arabischen Welt und bei den Palästinensern
eine hassvolle antijüdische Hetze entfachte – mit
Vernichtungsdrohungen, die nicht weit vom
Nazi-Antisemitismus entfernt waren.
Während sich die israelischen
Staatsgründer nach außen um ein demokratisches und
friedfertiges Gesicht bemühten und dafür keine
Lippenbekenntnisse scheuten, wurden fleißig Tatsachen
geschaffen. Diese sollten nicht nur den von der UNO
zugeteilten Teil Palästinas legitimieren, sondern zugleich
auch den Anspruch der Palästinenser und der arabischen Welt
auf einen Teil Palästinas delegitimieren. Diese Hetze und
die hartnäckige Verweigerung des Existenzrechtes Israels
dienten letztendlich mehr der israelischen Politik als der
palästinensischen.
Diese
Tatsachen und die erfolgreiche Entwicklung Israels sowohl zu
einer erstaunlich leistungsfähigen Wirtschaftsmacht als auch
zur „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ haben zu einer
verklärten Bewunderung geführt.
Diese wird nicht nur in
Deutschland, sondern auch in anderen Teilen der westlichen
Welt noch durch Israels geniale Fähigkeit erhöht, Millionen
Menschen aufzunehmen und die meisten wohlhabend zu machen.
Bestimmt von der furchtbaren
Vergangenheit und dem Trauma beider Völker, Juden und
Deutsche, hat sich meiner Meinung nach die oben erwähnte
pervertierte Symbiose entwickelt.
Die Benutzung der
"Auschwitz-Trumpfkarte" (Idith Zertal) durch Israel und
viele deutsche Juden nimmt oft Formen von geistiger
Erpressung an. Dadurch werden viele anständige und sensible
Deutsche traumatisiert. Sie haben Angst, als Antisemiten
verunglimpft zu werden. So haben sie sich abgefunden, Israel
als sakrosankt zu betrachten.
Mit dem Umlenken der deutschen
Politik auf die neoliberale Schiene wird ihre Haltung zur
israelischen Politik nicht nur von einem unkritischen Ethos
und Gewissen bestimmt, sondern auch durch macht- und
wirtschaftspolitische Überlegungen.
Wenn die symbiotische Beziehung
offensichtlich zu einer verharmlosenden Beurteilung der
israelischen Unrechtspolitik führt, ist dies aber nicht nur
ein moralisches Versäumnis, sondern auch ein realpolitischer
Fehler. Deutschland kann als politisch und wirtschaftlich
wichtigste Macht Europas viel durch die Verschärfung des
Konfliktes mit der islamischen und der „Dritten Welt“
einbüßen. Anstatt sich aktiv an den aussichtslosen Kriegen
und Konflikten - als Anti-Terror-Kriege bezeichnet - zu
beteiligen, würde Deutschland als Export-Weltmeister und
ehrlicher Vermittler viel besser fahren.
An dieser Stelle muss endlich
der Begriff "Terror" differenziert werden: palästinensischer
Widerstand kann nicht mit Al- Qaida-Terror gleichgesetzt
werden, auch wenn die Widerstandsformen der
palästinensischen Hamas oder der libanesischen Hisbollah
nicht zu rechtfertigen sind.
Auch den Iran betreffend sollte
Deutschland aus der pervertierten symbiotischen Beziehung
mit Israel aussteigen. Es kann dem Weltfrieden und dem
Frieden im Nahen Osten nichts Gutes bringen, wenn es als
selbstverständlich hingenommen wird, dass Israel die einzige
atomare Macht im Nahen Osten ist. Was hindert ein
friedenssuchendes Deutschland und Europa daran, darauf zu
bestehen, dass der Nahe Osten eine atomfreie Zone wird?
Schließlich ist Israel nicht nur der Staat, der Dutzende
Angriffskriege und –aktionen verantworten muss, sondern auch
der einzige Staat im Nahen Osten, der mit der atomaren
Überlegenheit fuchtelt und droht, sie gegen den Iran
einzusetzen.
Wenn man meine Meinung zu hart
formuliert findet, muss man bedenken, dass die verklärte
Symbiose mit Israel auch die Ursache dafür ist, dass die
meisten Deutschen über die Geschehnisse in Israel schlecht
informiert sind.
Israel mangelt es nicht nur an
politisch anerkannten geografischen Grenzen, auch moralisch
hat es jedes Maß verloren, zum Entsetzen einer sensiblen,
immer neu erschreckten Minderheit.
In meiner Studie über
deutsch-jüdische Gemeinsamkeiten mit dem Titel "Juden und
Deutsche zwischen Macht des Geistes und Ohnmacht der Gewalt"
spielt die Grenzenlosigkeit eine Rolle. Ich wurde
beeindruckt von vielen deutschen Historikern, die behaupten,
dass hauptsächlich die Maßlosigkeit Deutschlands das Land zu
den zwei verheerenden Niederlagen im 20. Jahrhundert geführt
hat. Diese Maßlosigkeit zeigt sich in der israelischen
Politik und Gesellschaft.
Deutschland sollte einen Weg
finden, sich von diesem maßlosen politischen Israel zu
distanzieren, ansonsten könnte es eines Tages in die
Verantwortung genommen werden - nicht nur für die
schreckliche Vergangenheit, sondern auch für das Akzeptieren
unserer gegenwärtigen Maßlosigkeit! Eine Maßlosigkeit, die
Israel mit einem schrecklichen Untergang bedroht.
Jerusalem im November 2009 /
Januar 2010
(In Absprache mit dem Autor
bearbeitete Fassung durch Kluge/ Belz)
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