Palestine
Update Nr. 195 – Samstag, 15. Dez. 2018 –
Wir sind Kairos - Eine
Spezialausgabe von Palestine Updates - eine Vision von
palästinensischen Christen Auszüge (oder Mitschriften) aus
der Rede von Rifat Kassis bei der Eröffnung der 9. Kairos
Geburtstags-Konferenz Rede von Rifat Odeh Kassis*) am 6.
Dezember 2018
(Vorgezogene Übersetzung von Gerhilde Merz mit Hinweis auf
Update Nr. 193)
Das ist Kairos Ich stehe hier, nicht um über Kairos und
seine Arbeit zu berichten – denn Kairos ist keine
Institution oder Organisation oder wenigstens Koalition.
Kairos sind wir! Es ist die Vision der Christen in Palästina
über ihre Wirklichkeit und ihre Zukunft in diesem Land. Es
ist eine christliche Stimme, die die Menschen vereint und
nicht mit irgendjemandem in den Wettbewerb eintritt, denn es
ist „Alle von Allen und für Alle“. Es ist der Diskurs der
Kirchen, der Führungspersonen von Entwicklungsinstituten
etc. und jeder einzelnen Person, der ihr Christentum wichtig
ist und Heimat. Kairos ist eine soziale Bewegung und Teil
der Palästinensischen Freiheitsbewegung (PLO) und des
Kampfes um Würde und Selbstbestimmung. Es ist eine
christliche schöpferische Widerstandsbewegung.
Was
wurde erreicht durch Kairos Kairos Palestine hat während der
vergangenen neun Jahre trotz aller Herausforderungen und
Schwierigkeiten viel erreicht. Trotzdem muss es
Straßensperren und Feindseligkeiten überwinden, ehe wir
unsere Bestimmung erreicht haben. Unsere Vision für ein
gerechtes Palästina ist unsere treibende Kraft. Diese Vision
und die Stärke geht durch unser Gründungsdokument: „Das
Kairos Dokument – Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und
Liebe aus dem Herzen des Leidens der Palästinenser“.
Vom Anfang an, bevor wir das Dokument herausbrachten,
kämpfte die Gruppe, die zusammensaß, um es aufzuschreiben,
mit Bildern und Wegen, um unsere Hoffnungen vorwärts zu
tragen und um unseren Glauben darzustellen. Wir können ein
Wachstum in unserer Bewegung fordern, um sie sogar weiter zu
tragen – ein Prozess, der zum Momentum wird, sogar während
ich spreche. Wir erreichen Dörfer und Gemeinden durch Reden
in Stadthallen und bei Treffen der Gemeinden. Und wir
gewinnen Energie durch vielfältige Ausdehnung der globalen
Solidarität. Unsere Überzeugung ist, dass wenn lokaler
Widerstand und globale Solidarität verschmelzen, unsere
Formel gewinnen wird.
Was sind unsere Herausforderungen Um von lokalen
Herausforderungen zu reden, stelle ich einige Themen vor.
Mir ist bewusst, dass ihr Anwesenden – lokale und
internationale – genaue Beobachter der Situation seid, die
Angriffe gegen uns registriert und euch in jeder euch
möglichen Art dem entgegenstellt.
1. Die israelische koloniale Besetzung und Apartheid
Diese ist offensichtlich in der diskriminierenden Politik
und Praktiken gegenüber Palästinensern. die bis zur
Apartheid reichen. Israels System von Checkpoints und
Barrieren quer über die besetzte Westbank behindert die
Freiheit der Bewegung und die Beschränkungen sind von
willkürlicher Natur. Die illegale israelische Trennmauer ist
eines der apartheidartigen Instrumente Israels. Es ist ein
Instrument, das konzipiert wurde, um Jerusalem zu
judaisieren, indem man dadurch die Anzahl der Palästinenser
in der Stadt reduzieren wollte. Israel führt auch illegale
koloniale Praktiken durch; wir könnten besonders die
illegalen Siedlungen als ursprüngliche Form der
Kolonisierung betrachten. Israel hat sich auch
landwirtschaftlich genutzte Flächen und Wasserressourcen in
der Westbank für ihre eigenen Zwecke angeeignet. Alles
dieses kommt einer Form von Kolonialismus gleich, die der
Charta der Vereinten Nationen widerspricht – wie sie in der
Deklaration der Generalversammlung 1960 über die „Gewährung
von Unabhängigkeit für Kolonialländer und -völker –
festgehalten ist.
2.Kriegsverbrechen Israel wurde weltbekannt für seine
Angriffe auf zivile Gebiete durch Militärapparate mit
militärischen Vorteilen und eigener Straflosigkeit. Das wird
begleitet durch das Niederreißen von Verwaltungs- gebäuden
im Gazastreifen aufgrund fadenscheiniger Verdächtigungen.
Dann gibt es diese rassistischen Angriffe einiger
israelischer Siedler gegen Palästinenser. Und zuletzt sind
die außergerichtlichen Tötungen oder gezielten Morde als
Form einer Hintertür-Todesstrafe zu erwähnen.
3 .Gaza Rund 1,8 Millionen Bewohner leben im
Gazastreifen hinter von Israel kontrollierten Grenzen in
nicht tolerierbarer Art stranguliert - eigentlich in einem
Freiluft-Gefängnis ohne freien Zugang zu Nahrungsmitteln,
Medizin, ordentlicher Bildung und jeder Basis menschlicher
Bedürfnisse.
4.Kriminalisierung von Widerstand Für Israel riskiert
jeder Palästinenser, der die Okkupation zurückweist oder
Widerstand leistet – auch wenn es total gewaltloser
Widerstand ist - als Verbrecher behandelt zu werden und er
läuft Gefahr, schwer und unvernünftig bestraft zu werden,
und nicht nur er/sie, sondern auch seine/ihre Verwandten und
Nachbarn.
5. Die politische Spaltung ist, wie immer definiert,
eine Kalamität für die Palästinenser, die physisch durch
israelische Sperren getrennt sind und politisch zwischen
rivalisierenden Regierungen in Gaza und in der Westbank
polarisieren, die radikal gegenteilige Politiken vertreten;
und sie sind wirtschaftlich abhängig von der Hilfe durch die
Welt.
6. Die Frustration, die viele von uns, besonders die
Jugend, wegen der wirtschaftlichen und politischen
Situationen empfinden. Die Okkupation und die Praktiken
der Israelis enthalten für die Jugend die Gefahr des
verhinderten wirtschaftlichen Wachstums aufgrund der
zunehmenden Bewegungsbeschränkungen für Menschen und Güter,
der hohen Arbeitslosigkeit und der unerfüllten Hoffnungen.
7. Herausforderungen an lokale Kirchen und die leise
Stimme der Kirchenführer Es ist dringend notwendig, dass
die lokalen Kirchen Quelle und Ort sind, wo die Sehnsucht
nach Gerechtigkeit ohne Angst und mit prophetischer Absicht
ausgesprochen werden.
8. Die Auswanderung von Palästinensern (HW d,Ü:
Immigration = Einwanderung?) Palästinensische Christen
verlassen Palästina in Scharen. Obwohl wir fast gleich sind
als vor Jahrzehnten, ist dies eine sehr große
Herausforderung für uns.
Auf internationaler Ebene Kairos Palestine ist
zurzeit eine noch im Entstehen begriffene weltweite
Solidaritätsbewegung, die im Wachsen begriffen ist. Als
Ergebnis dieser Konferenz werden Mitglieder von „Globales
Kairos für Gerechtigkeit“ gemeinsam daran arbeiten, eine
globale Strategie der Solidarität zu entwickeln – ein
greifbarer und umfassender Aktionsplan für Kairos-Partner
rund um die Welt, um daran mitzuarbeiten.

International möchte Kairos Palestine folgende Fragen in die
Diskussion bringen: *Das Wachstum und Herrschen der
evangelikalen Zionisten in USA und der internationale
politische Ruck nach rechts. *Die Anerkennung von Jerusalem
als Hauptstadt von Israel und die Übersiedlung der
US-Botschaft dorthin. *Bemühen um die Liquidierung des
Rückkehrrechtes durch Liquidierung der UNRWA *Die
Legitimierung der Siedlungen und Außenposten (?) *Die
Schwäche der „offiziellen“ internationalen Gemeinschaft und
der UN-Strukturen in der Konfrontation mit Israel. *Schwäche
der etablierten Kirchen und ihrer ökumenischen
Körperschaften, ihre Stimmen zu erheben und ihre Meinung zu
äußern …
Kairos wird die Hoffnung nicht aufgeben – Unser Weg ist
Sumud (Beständigkeit) Jenseits von dem, was als grausame
Härten erscheint, halten wir Palästinenser uns fest an der
Hoffnung und blicken nach vorn zu einer Zeit, in der
Gerechtigkeit Vorrang hat. Trotz aller Herausforderungen und
Schwierigkeiten haben wir viele Zeichen der Hoffnung:
1. Palästinenser in aller Welt vereinigen sich! Mehr
Verbindungen zwischen dem verstreuten palästinensischen Volk
...
2.Volkswiderstand und mehr Jugendbewegungen und Teilnahme im
Kampf als je zuvor. Das kann man in Iblin sehen, in Nabi
Mousa, beim Großen Marsch für das Recht auf Rückkehr in Gaza
und an vielen anderen Stellen.
3. Spannkraft der Palästinenser und ihre Absage an den „Century
Deal“ (Deal des Jahrhunderts).
4. Schrittweiser Übergang von der Apathie der offiziellen
Staaten zur betroffenen Zivilgesellschaft. Seit ewig
beschäftigten sich Staaten oder/und staatlich übergreifende
Akteure mit diesem Konflikt – ohne Lösung, heute übernimmt
die Zivilgesellschaft zunehmend Rollen und ersetzt die Rolle
der Staaten. Die BDS-Bewegung, das Kairos-Dokument und die
vielen globalen, regionalen und nationalen Initiativen sind
gewachsen und stellen Israel und seine Verbündeten vor die
realen Herausforderungen, indem sie für Gerechtigkeit für
Palästina und die Palästinenser arbeiten.
5. Schrittweise Veränderung der internationalen öffentlichen
Meinung von der Verhandlung mit Israel als „Demokratie“ zur
Apartheid.
Wo steht Kairos Palestine heute? Ich möchte nicht
vorwegnehmen, was wir in den paar nächsten Tagen diskutieren
wollen. Durch das Einbringen meiner Gedanken hoffe ich, uns
gern als Palästinenser und als eine globale Gemeinde zu
empfinden. Diese Gedanken sind nicht meine persönlichen
Hoffnungen und Ziele. Es ist das, was wir als kollektives
palästinensisches Volk uns wünschen als Kameradschaft
zwischen uns ebenso von der internationalen Gemeinschaft.
National: * Arbeiten wir mit Kirchen und Organisationen und
Initiativen; arbeiten wir mit und innerhalb der NCCOP
(National Coalition of Christian Organisations in Palestine
– Kairos Palestine) … der „Offene Brief“ vom 12. Juni 2017
an die weltweite Ökumene ist ein Wendepunkt. *Stärken wir
die christliche Präsenz durch Weiterarbeit in Versammlungen
und Treffen mit christlichen Führern und der Gemeinde in
Palästina … um mehr über ihre Schwierigkeiten zu erfahren
und wie wir darauf antworten sollen. Die christliche
Gegenwart zu erhalten ist keine Angelegenheit für ein
kleines Grüppchen, sondern ist eine nationale Angelegenheit,
um die Gestaltung der Gesellschaft als Ganze und ihren
Pluralismus zu erhalten. *Arbeiten wir mit anderen Teilen
der Gesellschaft … Gaza ist ein Beispiel dafür; sie haben
dort jetzt eine muslimische Bewegung zur Unterstützung der
Kairos-Bewegung. Nablus und die Arbeit dort ist ein anderes
Beispiel zur Arbeit mit Muslimen und Samaritanern. *Arbeiten
wir mit säkularen Bewegungen, besonders mit PNGO
(=Palästinensisches NGO-Netzwerk) und PHROC (Palestine Human
Rights Organisations Council); übersetzen wir
Fakten-Beobachtung in nationale Strategie. *Arbeiten wir
mehr mit der Jugend. Stärken wir die erst kürzlich
eingerichtete Kairos-Jugendbewegung. *Schreiben wir und
bringen wir das Buch „Introduction to Palestinian Theology“
(Einführung in die palästinensische Theologie) in
verschiedenen Gebieten unter die Leute … Die Einführung in
der Al-Najah Universität war ein Meilenstein, denn sie ist
die größte Universität und dort studieren haupt-sächlich
muslimische Studenten. *Die Arbeit mit der Al-Najah
Universität über die Durchführung einer christlichen
Konferenz über „Christen in der arabischen Welt – Palästina
als Modell“ , welche im März 2018 (?2019?) durchgeführt
wird. *Halten wir das Thema präsent und geben wir
Stellungnahmen ab zu verschiedenen nationalen und
internationalen Themen. *Arbeiten wir mit den Palästinensern
innerhalb der Grünen Linie.
International: *Setzen wir den theologischen Dialog mit
Kirchen, wissenschaftlichen Fachleuten, internationalen
Theologen aus verschiedenen Teilen der Welt fort. *Verteilen
wir die „Easter und „Christmas Alerts“ (im Deutschen
„Christfest 2018 -Ein Begleiter durch den Advent“
AphorismA-Verlag ISBN 978-3-86575-589-6), um die Situation
von Jerusalem und Bethlehem und ihrer Bürger zu schildern.
*Erweitern wir das globale „Kairos für Gerechtigkeit“.
*Bewegen wir uns mehr in den globalen Süden. *Stärken wir
BDS und arbeiten wir mit mehr Kirchen. *Stärken wir die
„Kommt und seht“-Kampagnen (Einladungen zu gezielten Reisen)
*Arbeiten wir in Partnerschaft mit „Christ at the
Checkpoint“, um evangelische (evangelikale?) Christen
herauszufordern.
Die Zukunft: *Bleiben wir bei unserer nationalen Arbeit,
lassen wir die nationale christliche Stimme nicht verstummen
und unterstützen wir alle Initiativen. *Arbeiten wir mit den
Kirchen, aber öffnen wir uns für die Gesellschaft und nehmen
wir teil an den allgemein gültigen Anliegen und ändern
(verstärken) wir die Strategie der Anwaltschaft, weisen wir
„christlich flaue Diplomatie“ zurück, wie sie im Offenen
Brief zu lesen ist. *Stärken wir BDS und boykottieren wir
die Pro-Apartheid-Kirchen und Theologen.
*) Rifat Kassis ist palästinensischer Christ und wurde in
Beit Sahour geboren. Er ist aktiver Menschenrechts-,
politischer und Gemeindeaktivist, Autor und Sprecher. Er
wurde arretiert und mehrmals von Israel eingesperrt. Er ist
Co-Autor von Kairos Palestine und dessen Koordinator seit
dessen Anfängen. Übersetzt von
Gerhilde Merz
Quelle
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